Was ist Achtsamkeit?
Achtsamkeit bedeutet, bewusst im gegenwärtigen Moment zu sein. Ohne zu bewerten, ohne abzuschweifen, ohne sofort zu reagieren. Sie nehmen wahr, was gerade ist, also Ihre Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen und die Umgebung, und beobachten dies mit einer gewissen Distanz.
Das klingt simpel, ist aber das Gegenteil von dem, was die meisten Menschen die meiste Zeit tun. Unser Geist ist ständig beschäftigt: mit Plänen, Erinnerungen, Sorgen, Analysen. Wir sind überall, nur nicht im Jetzt. Diese permanente geistige Aktivität ist anstrengend und einer der Haupttreiber von Stress.
Achtsamkeit ist keine Technik, sondern eine Haltung. Sie können achtsam essen, achtsam gehen, achtsam zuhören. Es geht nicht darum, den Kopf auszuschalten, denn das funktioniert sowieso nicht. Es geht darum, bewusster zu werden, was im Kopf passiert, und weniger automatisch darauf zu reagieren.
Jon Kabat-Zinn, der Achtsamkeit in den 1970er Jahren in die westliche Medizin brachte, definiert sie so: «Achtsamkeit ist eine bestimmte Form der Aufmerksamkeit: absichtsvoll, auf den gegenwärtigen Moment gerichtet und nicht wertend.» Diese drei Elemente, also Absicht, Gegenwart und Nicht-Werten, machen den Kern aus.
Unterschied zwischen Achtsamkeit und Meditation
Die Begriffe werden oft synonym verwendet, meinen aber nicht dasselbe. Meditation ist eine Übung, Achtsamkeit ist ein Zustand. Sie können meditieren, um achtsamer zu werden. Aber Sie können auch achtsam sein, ohne zu meditieren.
Meditation ist eine formale Praxis. Sie setzen sich hin (oder liegen, oder gehen), widmen eine bestimmte Zeit dieser Übung und folgen einer Anleitung oder Technik. Meditation ist Training, vergleichbar mit Krafttraining für den Geist.
Achtsamkeit ist das Ergebnis dieses Trainings, kann aber auch informell im Alltag praktiziert werden. Wenn Sie beim Abwaschen voll bei der Sache sind, die Temperatur des Wassers spüren, das Klappern des Geschirrs hören, ohne gleichzeitig mental Ihre To-do-Liste durchzugehen: Dann sind Sie achtsam.
Man könnte sagen: Meditation ist der Fitnessraum, Achtsamkeit ist die Fitness. Sie üben im Fitnessraum, damit Sie im Alltag fitter sind. Meditation trainiert Ihre Fähigkeit zur Achtsamkeit.
MBSR: Stressreduktion durch Achtsamkeit
MBSR steht für Mindfulness-Based Stress Reduction, auf Deutsch: Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion. Dieses Programm entwickelte Jon Kabat-Zinn 1979 an der Universitätsklinik von Massachusetts für Patienten mit chronischen Schmerzen und stressbedingten Erkrankungen.
Das Besondere: MBSR ist weltanschaulich neutral. Kabat-Zinn entnahm buddhistische Meditationstechniken ihrem religiösen Kontext und übersetzte sie in eine moderne, wissenschaftlich fundierte Methode. Kein Esoterik-Ballast, kein Räucherstäbchen-Pflicht, keine spirituellen Konzepte. Nur praktische Übungen mit messbaren Effekten.
Ein klassischer MBSR-Kurs dauert acht Wochen. Jede Woche gibt es ein etwa zweistündiges Treffen in der Gruppe, plus tägliche Übungen zuhause (etwa 45 Minuten). Die Teilnehmer lernen verschiedene Achtsamkeitsübungen: Body Scan, Sitzmeditation, achtsames Yoga, Gehmeditation.
Die Wirksamkeit ist gut dokumentiert. Studien zeigen, dass MBSR nachweislich hilft bei:
- Stressreduktion und verbesserter Stressbewältigung
- Angststörungen und Panikattacken
- Depressiven Verstimmungen (nicht als alleinige Therapie bei schweren Depressionen)
- Chronischen Schmerzen
- Schlafstörungen
- Bluthochdruck
- Burnout-Symptomen
Messbare physiologische Veränderungen umfassen: reduzierte Cortisol-Werte, veränderte Hirnaktivität (mehr Aktivität in Bereichen für Emotionsregulation, weniger in Angstzentren), verbessertes Immunsystem.
Body Scan: Grundübung der Achtsamkeit
Der Body Scan ist eine der Kernübungen im MBSR und ein guter Einstieg in die Achtsamkeitspraxis. Sie lenken Ihre Aufmerksamkeit systematisch durch Ihren Körper, von den Füssen bis zum Kopf, und beobachten, was Sie wahrnehmen, ohne etwas zu verändern.
Der Body Scan schult die Körperwahrnehmung. Viele Menschen sind mental so sehr im Aussen, dass sie kaum noch merken, was in ihrem Körper vorgeht. Der Body Scan bringt Sie zurück in Ihren Körper und macht Sie empfänglicher für frühe Stresssignale.
Body Scan: Anleitung (15–20 Minuten)
- Position: Legen Sie sich auf den Rücken, Arme neben dem Körper, Beine leicht gespreizt. Alternativ: aufrecht im Stuhl sitzen.
- Ankommen: Schliessen Sie die Augen. Spüren Sie, wie Ihr Körper auf der Unterlage aufliegt. Nehmen Sie ein paar bewusste Atemzüge.
- Füsse: Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit zu Ihrem linken Fuss. Nehmen Sie wahr, was Sie spüren, etwa Wärme, Kälte, Kribbeln, Druck oder vielleicht auch nichts Besonderes. Versuchen Sie nicht, etwas zu erzeugen. Nur wahrnehmen.
- Weiter nach oben: Wandern Sie langsam weiter: linker Unterschenkel, linkes Knie, linker Oberschenkel, linke Hüfte. Dann die gleiche Sequenz rechts. Nehmen Sie sich für jeden Bereich etwa 30–60 Sekunden Zeit.
- Rumpf: Weiter zum Becken, Unterleib, Bauch, unterem Rücken, Brustkorb, oberem Rücken. Spüren Sie die Atembewegung im Bauch und Brustkorb.
- Arme und Hände: Linke Hand, linker Unterarm, linker Oberarm, linke Schulter. Dann rechte Seite.
- Kopf und Gesicht: Nacken, Hinterkopf, Kopfseiten, Stirn, Augen, Wangen, Kiefer, Mund, Kinn.
- Ganzer Körper: Zum Abschluss nehmen Sie den Körper als Ganzes wahr. Spüren Sie, wie der Atem durch den ganzen Körper fliesst.
- Zurückkommen: Bewegen Sie sanft Finger und Zehen, recken und strecken Sie sich. Öffnen Sie die Augen, wenn Sie bereit sind.
Wichtig: Wenn Ihre Gedanken abschweifen (und das werden sie), ist das völlig normal. Sobald Sie es bemerken, kehren Sie einfach zur letzten Körperstelle zurück. Kein Drama, keine Selbstkritik. Das Abschweifen gehört dazu.
Der Body Scan eignet sich besonders gut abends vor dem Schlafen, hilft aber auch tagsüber, wenn Sie merken, dass Sie mental «überdreht» sind. Er erdet, beruhigt und bringt Sie aus dem Grübeln heraus.
5-Minuten-Achtsamkeit für Anfänger
Sie haben keine 20 Minuten für einen Body Scan? Kein Problem. Achtsamkeit funktioniert auch in kurz. Hier drei Übungen, die jeweils etwa 5 Minuten dauern und sich perfekt für den Einstieg eignen.
1. Achtsamkeit auf den Atem (5 Minuten)
Setzen Sie sich aufrecht hin, schliessen Sie die Augen oder richten Sie den Blick auf einen festen Punkt. Lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit auf Ihren Atem. Spüren Sie, wie die Luft durch die Nase ein- und ausströmt, wie sich Bauch oder Brust hebt und senkt. Zählen Sie nicht, beeinflussen Sie nicht, nur beobachten. Wenn Gedanken kommen, nehmen Sie sie zur Kenntnis und kehren zum Atem zurück. 5 Minuten lang.
2. Achtsames Gehen (5 Minuten)
Gehen Sie langsam auf und ab, etwa 10–15 Schritte hin, umdrehen, zurück. Konzentrieren Sie sich voll auf die Gehbewegung. Spüren Sie, wie die Ferse aufsetzt, wie das Gewicht nach vorne rollt, wie der Fuss sich abhebt. Die Arme hängen locker. Der Blick ist gesenkt, aber nicht geschlossen. Nur gehen, nichts sonst. Wenn der Kopf abschweift, zurück zu den Füssen.
3. Achtsames Essen (5 Minuten)
Nehmen Sie ein kleines Stück Essen, etwa eine Rosine, ein Stück Schokolade oder eine Nuss. Betrachten Sie es genau. Fühlen Sie die Textur mit den Fingern. Riechen Sie daran. Legen Sie es in den Mund, ohne zu kauen. Spüren Sie es auf der Zunge. Dann langsam kauen, jeden Geschmack wahrnehmen. Erst dann schlucken. Diese Übung zeigt drastisch, wie wenig achtsam wir normalerweise essen.
Diese kurzen Übungen sind kein Ersatz für längere Meditationen, aber ein hervorragender Einstieg. Sie können sie problemlos in den Alltag integrieren: morgens vor der Arbeit, in der Mittagspause, abends nach dem Heimkommen.
Typische Hindernisse und wie Sie sie überwinden
Fast jeder, der mit Meditation beginnt, stösst auf dieselben Schwierigkeiten. Das ist nicht Ihr persönliches Versagen, sondern normal. Hier die häufigsten Hindernisse und wie Sie damit umgehen.
«Ich kann nicht abschalten»
Das ist der grösste Irrtum über Meditation. Es geht nicht ums Abschalten. Ihr Gehirn wird weiter denken, denn das ist sein Job. Meditation bedeutet, zu beobachten, wie Sie denken, ohne in jeden Gedanken einzusteigen. Sie sitzen im Kino und schauen zu, statt selbst auf der Leinwand zu agieren.
«Ich bin zu unruhig zum Meditieren»
Gerade wenn Sie unruhig sind, ist Meditation sinnvoll. Probieren Sie aktive Formen: Gehmeditation, achtsames Yoga, Body Scan. Bewegung hilft, den Bewegungsdrang zu kanalisieren. Mit der Zeit wird auch Sitzmeditation leichter.
«Ich habe keine Zeit»
5 Minuten haben Sie. Jeden Tag. Starten Sie damit. Nicht mit dem Ideal von 30 Minuten täglich, das Sie ohnehin nicht durchhalten. Besser 5 Minuten jeden Tag als 30 Minuten einmal pro Woche.
«Es passiert nichts»
Meditation ist kein Erlebnispark. Manchmal fühlen Sie sich danach entspannt, manchmal nicht. Das ist okay. Die Wirkung zeigt sich langfristig, nicht in spektakulären Einzelerlebnissen. Vertrauen Sie dem Prozess, nicht dem Gefühl nach jeder Sitzung.
«Ich mache es falsch»
Sie können Meditation nicht falsch machen, solange Sie es tun. Abschweifen ist kein Fehler, sondern Teil der Übung. Jedes Zurückholen der Aufmerksamkeit ist eine Wiederholung, wie beim Krafttraining. Je öfter Sie merken, dass Sie abgeschweift sind, desto mehr trainieren Sie.
«Ich bin nicht spirituell genug»
Müssen Sie auch nicht sein. Meditation ist keine Religion. Sie können meditieren und Atheist bleiben, Wissenschaftler bleiben, Skeptiker bleiben. Behandeln Sie es wie Zähneputzen, eine hygienische Massnahme für den Geist.
Apps und Ressourcen
Gerade am Anfang können geführte Meditationen und Apps hilfreich sein. Sie geben Struktur, erinnern Sie ans Üben und bieten verschiedene Übungen an. Hier eine Auswahl bewährter Ressourcen:
Apps (deutsch):
- 7Mind: Deutsche App mit Kursen für Anfänger, Stress, Schlaf, Achtsamkeit im Alltag. Teilweise kostenlos, Premium-Version mit mehr Inhalten. In Kooperation mit mehreren deutschen Krankenkassen.
- Balloon: Schweizer App, entwickelt von der ZHAW. Fokus auf Stressbewältigung, wissenschaftlich fundiert. Kostenlose Basisversion verfügbar.
- Headspace: Internationale App, auch auf Deutsch verfügbar. Sehr anfängerfreundlich, klare Struktur, verschiedene Kurse. Kostenpflichtig nach Probephase.
- Calm: Grosse Auswahl an geführten Meditationen, Schlafgeschichten, Musik. Teilweise auf Deutsch. Kostenpflichtig.
MBSR-Kurse in der Schweiz:
- MBSR-Verband Schweiz: Verzeichnis zertifizierter MBSR-Lehrer (www.mbsr-verband.ch)
- Viele Volkshochschulen bieten MBSR-Kurse an und sind oft günstiger als private Anbieter
- Psychiatrische Kliniken und Rehakliniken integrieren MBSR oft in ihre Programme
Kostenlose Ressourcen:
- YouTube: Zahlreiche kostenlose geführte Meditationen auf Deutsch. Suchen Sie nach «Body Scan deutsch» oder «Achtsamkeitsmeditation».
- Podcasts: «Meditation für jeden Tag» (Paulina Thurm), «Die Meditation» (verschiedene Sprecher)
- Öffentliche Bibliotheken: Viele verleihen Hörbücher zu Achtsamkeit und Meditation
Wie Achtsamkeit langfristig wirkt
Achtsamkeit verändert nicht Ihre Lebensumstände. Der Chef bleibt schwierig, die Deadlines bleiben knapp, der Verkehr bleibt nervig. Was sich ändert, ist Ihr Umgang damit.
Regelmässige Achtsamkeitspraxis stärkt Ihre Fähigkeit, Stressoren wahrzunehmen, ohne automatisch in Panik oder Vermeidung zu verfallen. Sie schaffen einen Raum zwischen Reiz und Reaktion. In diesem Raum liegt Ihre Freiheit, nämlich die Freiheit, zu wählen, wie Sie reagieren.
Hirnscans zeigen: Nach acht Wochen MBSR verändert sich die Struktur des Gehirns messbar. Der präfrontale Kortex, zuständig für bewusste Steuerung, wird aktiver. Die Amygdala, das Angstzentrum, reagiert weniger heftig auf Stressreize. Diese Veränderungen sind nicht vorübergehend, sondern sie bleiben, solange Sie üben.
Langfristig entwickeln Sie eine andere Beziehung zu Ihren Gedanken und Gefühlen. Sie identifizieren sich weniger mit ihnen. Angst ist da, aber Sie sind nicht die Angst. Stress ist da, aber er ist nicht Ihre ganze Realität. Diese Distanz macht Sie nicht gleichgültig, sondern handlungsfähiger. Wer tiefer in diese Arbeit einsteigen möchte, findet bei professionellem Coaching für nachhaltige Stressbewältigung weiterführende Ansätze.
Achtsamkeit ist kein Wundermittel. Sie werden immer noch gestresst sein, zweifeln, ungeduldig werden. Aber Sie werden es früher merken, klarer sehen und öfter die Wahl haben, anders zu reagieren. Und das macht, über Monate und Jahre, einen enormen Unterschied.