Schweizer Magazin für psychische Gesundheit
NOTFALL 143

Wann zum Arzt?

Nicht jede stressige Phase erfordert medizinische Hilfe. Aber es gibt klare Warnsignale, bei denen Sie professionelle Unterstützung suchen sollten. Ein Überblick über körperliche und psychische Alarmzeichen und wie das Schweizer Gesundheitssystem funktioniert.

Viele Menschen zögern lange, bevor sie wegen psychischer Belastung zum Arzt gehen. Die Gründe sind vielfältig: Scham, die Angst, überzureagieren, die Hoffnung, es gehe von selbst vorbei. Doch es gibt objektive Kriterien, die anzeigen, dass professionelle Hilfe sinnvoll oder sogar notwendig ist.

Körperliche Warnsignale, die ärztliche Abklärung brauchen

Chronischer Stress kann körperliche Symptome verursachen, die ernst genommen werden sollten. Folgende Beschwerden rechtfertigen einen Arztbesuch:

  • Anhaltende Erschöpfung: Sie fühlen sich trotz ausreichend Schlaf dauerhaft müde und kraftlos, die Erholung funktioniert nicht mehr
  • Schlafstörungen: Probleme beim Ein- oder Durchschlafen über mehrere Wochen, trotz Versuchen, die Schlafhygiene zu verbessern
  • Anhaltende Schmerzen: Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Verspannungen, die chronisch werden oder sich verschlimmern
  • Magen-Darm-Beschwerden: Wiederkehrende Übelkeit, Durchfall, Verstopfung, Magenschmerzen ohne erkennbare organische Ursache
  • Herz-Kreislauf-Symptome: Herzrasen, Brustdruck, Bluthochdruck, Schwindel
  • Häufige Infekte: Sie werden ständig krank, das Immunsystem ist geschwächt
  • Gewichtsveränderungen: Deutliche Zu- oder Abnahme ohne bewusste Ernährungsumstellung

Diese Symptome können zwar stressbedingt sein, müssen es aber nicht. Deshalb ist eine ärztliche Abklärung wichtig, um organische Ursachen auszuschliessen.

Psychische Warnsignale: Wann wird es kritisch?

Noch wichtiger als die körperlichen Symptome sind die psychischen Anzeichen. Folgende Punkte sollten Sie alarmieren:

Andauernde Niedergeschlagenheit

Wenn die gedrückte Stimmung länger als zwei Wochen anhält, jeden Tag präsent ist und nichts mehr Freude bereitet, kann das auf eine Depression hindeuten. Stress ist dann nicht mehr das Hauptproblem, sondern die Folgeerkrankung.

Hoffnungslosigkeit und Rückzug

Sie sehen keinen Ausweg mehr, ziehen sich sozial zurück, Dinge, die früher wichtig waren, werden gleichgültig. Das sind typische Anzeichen eines fortgeschrittenen Erschöpfungszustands oder einer beginnenden Depression.

Suizidgedanken

Gedanken wie «Es wäre besser, wenn ich nicht mehr da wäre» sind ein absolutes Alarmsignal. Selbst wenn sie flüchtig sind und nicht konkret geplant: Sprechen Sie sofort mit jemandem darüber. Das ist kein Zeichen von Schwäche, sondern ein medizinischer Notfall.

Kontrollverlust über das Verhalten

Sie können Ihre Emotionen nicht mehr regulieren, haben Wutausbrüche, Panikattacken oder greifen zu problematischen Bewältigungsstrategien (Alkohol, Medikamente, exzessiver Konsum).

Funktionsverlust im Alltag

Sie können Ihren beruflichen oder privaten Verpflichtungen nicht mehr nachkommen. Krankmeldungen häufen sich, die Arbeit wird zur Überforderung, selbst einfache Alltagsaufgaben fallen schwer.

Wichtig: Sie müssen nicht alle diese Symptome haben. Schon ein oder zwei Punkte, die länger als zwei Wochen andauern, rechtfertigen einen Arztbesuch. Warten Sie nicht, bis es «richtig schlimm» wird. Frühe Intervention ist wirksamer.

Der Unterschied: Hausarzt oder Facharzt?

In der Schweiz ist der Hausarzt (Allgemeinmediziner) in der Regel die erste Anlaufstelle. Das hat mehrere Vorteile:

  • Der Hausarzt kennt Sie und Ihre Krankengeschichte
  • Er kann körperliche Ursachen abklären oder ausschliessen
  • Er kann erste Massnahmen einleiten (Krankschreibung, Medikation, Überweisung)
  • Bei den meisten Krankenkassen-Modellen (Hausarztmodell, HMO) ist er ohnehin vorgeschrieben

Der Hausarzt kann Sie bei Bedarf an einen Facharzt überweisen:

  • Psychiater: Facharzt für psychische Erkrankungen, kann Diagnosen stellen und Medikamente verschreiben
  • Psychotherapeut: Psychologe mit Weiterbildung in Psychotherapie, bietet Gesprächstherapie an (keine Medikamente)
  • Psychosomatiker: Spezialist für körperliche Symptome mit psychischer Ursache

In akuten Fällen oder wenn die Wartezeit beim Hausarzt zu lang ist, können Sie sich auch direkt an eine psychiatrische Klinik oder einen psychiatrischen Notfalldienst wenden.

Wie Sie sich auf den Arzttermin vorbereiten

Viele Menschen gehen unvorbereitet zum Arzt und vergessen in der Aufregung, wichtige Dinge zu erwähnen. Eine gute Vorbereitung hilft:

Notieren Sie im Vorfeld

  • Symptome: Was genau belastet Sie? Seit wann? Wie häufig?
  • Auslöser: Gibt es erkennbare Zusammenhänge? Berufliche Veränderungen, private Krisen?
  • Bisherige Bewältigung: Was haben Sie bereits versucht? Was hat geholfen, was nicht?
  • Medikamente: Nehmen Sie aktuell Medikamente? Auch rezeptfreie?
  • Vorerkrankungen: Gab es früher schon psychische Belastungen oder Behandlungen?

Seien Sie ehrlich

Beschönigen Sie nichts. Der Arzt kann nur helfen, wenn er das volle Bild kennt. Wenn Sie Alkohol trinken, um einzuschlafen, sagen Sie es. Wenn Sie Suizidgedanken haben, sprechen Sie es aus. Ärzte sind an die Schweigepflicht gebunden.

Fragen Sie nach

Wenn Sie etwas nicht verstehen, fragen Sie. Klären Sie ab: Was ist die Diagnose? Welche Behandlung wird vorgeschlagen? Wie lange dauert es? Was sind die nächsten Schritte?

Was Sie beim Arztbesuch erwartet

Der Hausarzt wird zunächst ein Anamnesegespräch führen: Wie geht es Ihnen? Was sind die Beschwerden? Wie ist die aktuelle Lebenssituation? Anschliessend erfolgt meist eine körperliche Untersuchung, um organische Ursachen auszuschliessen (Blutdruck, Blutwerte, eventuell EKG).

Je nach Befund kann der Arzt:

  • Sie für einige Tage krankschreiben, damit Sie zur Ruhe kommen
  • Medikamente verschreiben (z.B. Schlafmittel kurzfristig, Antidepressiva bei Depression)
  • Eine Überweisung an einen Psychiater oder Psychotherapeuten ausstellen
  • Weitere Abklärungen veranlassen (z.B. Schilddrüsenwerte bei Erschöpfung)
  • Verhaltenstipps geben und einen Kontrolltermin vereinbaren

Die Wartezeit für einen Psychotherapieplatz kann in der Schweiz mehrere Wochen bis Monate betragen. Fragen Sie nach Alternativen: psychologische Beratungsstellen, Krisendienste, Online-Angebote oder komplementäre Ansätze wie hypnotherapeutische Stressbehandlung.

Das Schweizer Hausarzt-System

Viele Krankenkassen in der Schweiz bieten Hausarztmodelle oder HMO-Modelle an. Der Vorteil: niedrigere Prämien. Der Nachteil: Sie müssen bei gesundheitlichen Problemen zuerst zum Hausarzt, der entscheidet über Überweisungen.

Wenn Sie in einem solchen Modell sind, ist der Hausarzt also nicht nur empfohlen, sondern verpflichtend (ausser bei Notfällen). Das ist aber meist kein Problem, denn bei psychischen Belastungen ist der Hausarzt ohnehin die richtige erste Adresse.

Notfall: Wenn es nicht warten kann

In akuten Krisen, etwa bei Suizidgedanken, Panikattacken oder schweren Angstzuständen, warten Sie nicht auf einen Termin. Nutzen Sie diese Notfall-Optionen:

Notfallnummern Schweiz

143 Dargebotene Hand
(24/7, kostenlos, anonym)
147 Pro Juventute
(für Kinder & Jugendliche)
144 Sanität
(bei medizinischem Notfall)

Zusätzliche Anlaufstellen:

  • Psychiatrischer Notfalldienst: Die meisten grösseren Spitäler haben einen psychiatrischen Notfall. Sie können ohne Termin vorbeigehen.
  • Kriseninterventionszentren: In vielen Kantonen gibt es spezialisierte Krisenstellen (z.B. Kriseninterventionszentrum Zürich, Zentrum für Krisenintervention Bern).
  • Ärztlicher Notfalldienst (0800 33 66 55): Wenn der Hausarzt nicht erreichbar ist, vermittelt der Notfalldienst einen verfügbaren Arzt.

Wichtig: In einer akuten Krise mit Selbstgefährdung zögern Sie nicht, die Sanität (144) zu rufen oder sich in die Notaufnahme einer Psychiatrie zu begeben. Das ist kein Drama, sondern eine notwendige medizinische Massnahme.

Kostenübernahme durch die Krankenkasse

Die Grundversicherung übernimmt die Kosten für ärztliche Behandlung (Hausarzt, Psychiater) sowie für psychologische Psychotherapie, sofern sie ärztlich angeordnet ist. Das bedeutet: Sie brauchen eine Überweisung vom Arzt.

Psychologische Beratung ohne ärztliche Anordnung wird von der Grundversicherung in der Regel nicht übernommen. Einige Zusatzversicherungen beteiligen sich jedoch an den Kosten. Informieren Sie sich bei Ihrer Krankenkasse.

Keine falsche Scham

Psychische Belastung ist keine Charakterschwäche. Sie ist eine medizinische Realität, die genauso behandelt werden sollte wie ein Knochenbruch oder eine Entzündung. Der Gang zum Arzt ist kein Eingeständnis von Versagen, sondern ein Akt der Selbstfürsorge.

Viele Menschen bereuen im Nachhinein, nicht früher Hilfe gesucht zu haben. Niemand bereut, sich rechtzeitig Unterstützung geholt zu haben. Wenn Sie unsicher sind, ob Ihre Symptome «schlimm genug» sind, gehen Sie trotzdem hin. Der Arzt wird Sie nicht auslachen. Im Gegenteil: Er wird froh sein, dass Sie kommen, bevor es akut wird.

Zusammengefasst: Gehen Sie zum Arzt, wenn ...

  • körperliche Symptome länger als zwei Wochen anhalten
  • Sie sich länger als zwei Wochen durchgehend niedergeschlagen fühlen
  • Ihr Alltag nicht mehr funktioniert (Arbeit, Beziehungen, Selbstfürsorge)
  • Sie Suizidgedanken haben, auch wenn sie nur flüchtig sind
  • Sie zu problematischen Bewältigungsstrategien greifen (Alkohol, Medikamente)
  • nahestehende Personen sich Sorgen machen und Sie darauf ansprechen

Der erste Schritt ist oft der schwerste. Aber er lohnt sich. Denn Stress und seine Folgen sind behandelbar, sofern man sie ernst nimmt.