Schweizer Magazin für psychische Gesundheit
NOTFALL 143

Selbsthilfegruppen

Der Austausch mit Menschen in ähnlicher Lage kann enorm entlasten. Selbsthilfegruppen bieten genau das: gemeinsame Bewältigung, gegenseitige Unterstützung und das Wissen, nicht allein zu sein.

«Niemand versteht, was ich durchmache.» Ein Satz, den viele Menschen mit psychischen Belastungen kennen. Selbsthilfegruppen schaffen einen Raum, in dem dieser Satz nicht mehr gilt. Hier treffen sich Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben: mit Depression, Burnout, Angststörungen oder anderen Belastungen. Das Prinzip ist einfach: Betroffene helfen Betroffenen.

Was ist eine Selbsthilfegruppe?

Eine Selbsthilfegruppe ist ein freiwilliger Zusammenschluss von Menschen mit ähnlichen Problemen oder Lebenslagen. Im Unterschied zu professioneller Therapie wird die Gruppe nicht von einem Therapeuten geleitet, sondern von den Teilnehmenden selbst organisiert. Manchmal gibt es eine Moderation durch erfahrene Gruppenmitglieder, aber die Grundidee ist: Alle sind gleichberechtigt, alle bringen ihre Erfahrungen ein.

Selbsthilfegruppen gibt es zu nahezu allen Themen: chronische Krankheiten, Sucht, psychische Störungen, Trauer, Lebenskrisen. Der Fokus liegt auf gegenseitiger Unterstützung, Erfahrungsaustausch und gemeinsamer Bewältigung.

Wie funktionieren Selbsthilfegruppen?

Struktur und Ablauf

Selbsthilfegruppen treffen sich regelmässig, meist alle ein bis zwei Wochen. Die Treffen dauern zwischen 60 und 90 Minuten. Typischer Ablauf:

  • Begrüssung und Ankommen: Kurzer Check-in, wie es jedem geht
  • Thema oder offene Runde: Entweder wird ein vorher festgelegtes Thema besprochen («Umgang mit Rückschlägen») oder jeder spricht frei, was ihn beschäftigt
  • Austausch: Teilnehmende erzählen von ihren Erfahrungen, anderen hören zu, geben Rückmeldungen, teilen eigene Strategien
  • Abschluss: Kurzes Resümee, Verabschiedung, eventuell Termin für nächstes Treffen

Die Atmosphäre ist meist informell, aber vertraulich. Was in der Gruppe besprochen wird, bleibt in der Gruppe. Viele Gruppen haben einfache Regeln: respektvoller Umgang, keine Ratschläge aufdrängen, ausreden lassen.

Keine Therapie, aber therapeutisch wirksam

Wichtig: Selbsthilfegruppen sind keine Psychotherapie. Es gibt keine Diagnosen, keine therapeutischen Interventionen im klinischen Sinn. Dennoch können sie therapeutisch wirksam sein, und zwar durch soziale Unterstützung, Normalisierung («Ich bin nicht der Einzige»), Modelllernen («Wenn sie das geschafft hat, kann ich das auch») und praktischen Austausch.

Was bringt eine Selbsthilfegruppe?

Die Vorteile von Selbsthilfegruppen sind vielfältig:

1. Geteilte Erfahrung

In der Gruppe treffen Sie Menschen, die wirklich verstehen, was Sie durchmachen. Keine gut gemeinten Ratschläge von aussen, sondern echtes Verstehen aus eigener Erfahrung. Das reduziert Scham und Isolation.

2. Praktisches Wissen

Gruppenmitglieder teilen Strategien, die ihnen geholfen haben: Welche Entspannungstechnik funktioniert? Wie spreche ich mit dem Arbeitgeber? Wo finde ich einen guten Therapeuten? Dieses Erfahrungswissen ist oft konkreter als Lehrbücher.

3. Soziale Unterstützung

Viele psychische Belastungen führen zu sozialem Rückzug. Die Gruppe bietet einen Ort der Zugehörigkeit. Manche Gruppen unternehmen auch gemeinsam etwas ausserhalb der Treffen.

4. Selbstwirksamkeit

Wenn Sie anderen helfen, durch Zuhören, Ermutigung, Teilen Ihrer eigenen Strategien, stärkt das Ihr Gefühl, nicht nur Opfer zu sein, sondern aktiv handeln zu können.

5. Kontinuität und Verbindlichkeit

Regelmässige Treffen strukturieren den Alltag. Die Gruppe erwartet Sie, das motiviert, hinzugehen, auch wenn es schwerfällt.

6. Niederschwelligkeit

Selbsthilfegruppen sind meist kostenlos, ohne Wartelisten, ohne Überweisungen. Sie können einfach hingehen.

Was Selbsthilfegruppen leisten können

  • Gegenseitiges Verständnis und emotionale Entlastung
  • Austausch praktischer Bewältigungsstrategien
  • Reduzierung von Isolation und Scham
  • Motivation durch Vorbilder («Wenn andere es schaffen, kann ich das auch»)
  • Informationen über Ressourcen und Anlaufstellen
  • Soziale Kontakte und Zugehörigkeit

Arten von Selbsthilfegruppen

Es gibt Gruppen zu nahezu allen psychischen Belastungen:

  • Depression: Austausch über Symptome, Bewältigung des Alltags, Umgang mit Rückschlägen
  • Burnout: Abgrenzung lernen, berufliche Neuorientierung, Prävention
  • Angststörungen: Panikattacken, soziale Ängste, Phobien: Strategien und Expositionsbegleitung
  • Bipolare Störung: Frühwarnsignale erkennen, Medikamenten-Management, Tagesstruktur
  • Sucht: Anonyme Alkoholiker (AA), Narcotics Anonymous (NA), weltweit etabliert
  • Trauer: Gruppen für Verwitwete, Eltern, die ein Kind verloren haben, etc.
  • Essstörungen: Anorexie, Bulimie, Binge-Eating
  • Angehörigengruppen: Für Partner, Eltern oder Kinder von Menschen mit psychischen Erkrankungen

Manche Gruppen sind offen (man kann jederzeit dazukommen), andere geschlossen (feste Teilnehmer über einen bestimmten Zeitraum). Es gibt störungsspezifische Gruppen und allgemeine Gruppen für psychische Gesundheit.

Wie finde ich eine Selbsthilfegruppe in der Schweiz?

Selbsthilfe Schweiz

Die zentrale Anlaufstelle ist Selbsthilfe Schweiz, der Dachverband der Selbsthilfeorganisationen. Auf der Website finden Sie:

  • Datenbank mit bestehenden Gruppen nach Kanton und Thema
  • Kontaktstellen in jedem Kanton, die bei der Suche helfen
  • Informationen zur Gründung eigener Gruppen

Website: selbsthilfeschweiz.ch

Kantonale Selbsthilfezentren

Jeder Kanton hat eine Kontaktstelle für Selbsthilfe. Diese beraten Sie persönlich, telefonisch oder per E-Mail:

  • Welche Gruppe passt zu mir?
  • Wo und wann trifft sich die Gruppe?
  • Wie läuft ein erstes Treffen ab?
  • Was, wenn ich keine passende Gruppe finde?

Wichtige Anlaufstellen

Selbsthilfe Schweiz Dachverband mit Gruppenverzeichnis und kantonalen Kontaktstellen. Telefon: 061 333 86 01 | selbsthilfeschweiz.ch
Selbsthilfe Zürich Kontaktstelle Zürich und Schaffhausen. Telefon: 043 288 88 88 | selbsthilfezuerich.ch
Selbsthilfe Bern Kontaktstelle Region Bern. Telefon: 031 301 90 00 | selbsthilfebe.ch
Equilibrium Verein für Menschen mit Depression und Bipolar, führt eigene Selbsthilfegruppen. equilibrium.ch
VASK (Vereinigung Angehöriger psychisch Kranker) Selbsthilfegruppen für Angehörige. vask.ch

Was erwartet mich beim ersten Treffen?

Der Schritt zur ersten Gruppensitzung kostet oft Überwindung. Hier ein paar Hinweise, was Sie erwartet:

Vorher

  • Kontaktieren Sie die Gruppe vorher (per E-Mail oder Telefon), um sicherzugehen, dass sie noch aktiv ist
  • Fragen Sie, ob Sie einfach vorbeikommen können oder ob Anmeldung nötig ist
  • Klären Sie Ort, Zeit, Dauer

Beim ersten Mal

  • Sie werden meist freundlich begrüsst und kurz vorgestellt
  • Niemand zwingt Sie zu sprechen. Zuhören ist völlig in Ordnung
  • Oft wird zu Beginn erklärt, wie die Gruppe funktioniert
  • Sie können jederzeit wieder gehen, wenn es nicht passt, kein Zwang

Nach dem ersten Treffen

  • Geben Sie der Gruppe mindestens 2–3 Termine, bevor Sie entscheiden, ob sie passt
  • Die erste Sitzung fühlt sich oft ungewohnt an, das ist normal
  • Wenn die Chemie nicht stimmt, suchen Sie eine andere Gruppe

Tipp: Sie müssen nicht Ihre ganze Geschichte beim ersten Mal erzählen. Ein kurzes «Ich habe mit Depression zu kämpfen und suche Austausch» reicht völlig.

Online vs. Präsenz: Welche Form passt?

Präsenz-Gruppen

Treffen vor Ort, in Gemeinschaftsräumen, Beratungsstellen oder privat. Vorteile: direkter Kontakt, nonverbale Kommunikation, oft stärkere Bindung. Nachteil: Anfahrt nötig, weniger anonym.

Online-Gruppen

Treffen per Videochat (Zoom, Teams) oder in geschlossenen Foren. Vorteile: ortsunabhängig, anonym, niedrige Hemmschwelle. Nachteil: technische Hürden, weniger persönlicher Kontakt.

Seit der Pandemie sind Online-Gruppen häufiger geworden. Viele Organisationen bieten beides an. Wenn Mobilität eingeschränkt ist oder Sie in einer ländlichen Region wohnen, sind Online-Gruppen eine gute Option.

Eigene Gruppe gründen: Wenn es keine passende gibt

Sie haben gesucht, aber keine passende Gruppe gefunden? Sie können selbst eine gründen. Das klingt aufwendig, ist aber machbar, und die kantonalen Selbsthilfestellen unterstützen Sie dabei.

Schritte zur Gruppengründung

  • Thema festlegen: Was soll die Gruppe behandeln? (z.B. Burnout bei Lehrpersonen, Angststörungen bei jungen Erwachsenen)
  • Kontaktstelle kontaktieren: Die Selbsthilfestelle Ihres Kantons berät kostenlos
  • Raum finden: Gemeinschaftszentren, Kirchgemeinden, Beratungsstellen stellen oft gratis Räume zur Verfügung
  • Gruppe ausschreiben: Über Selbsthilfe Schweiz, Schwarzes Brett in Arztpraxen, Social Media
  • Erstes Treffen organisieren: Offen für Interessierte, Austausch über Erwartungen, Regeln festlegen
  • Regelmässigkeit etablieren: Feste Termine vereinbaren, Verbindlichkeit schaffen

Viele erfolgreiche Gruppen sind entstanden, weil eine Person den Mut hatte zu sagen: «Ich brauche das, und andere vielleicht auch.»

Unterstützung: Die kantonalen Selbsthilfestellen bieten Startberatung, Moderationsschulungen und teilweise finanzielle Unterstützung für Raummiete oder Material.

Selbsthilfegruppe vs. Therapie: Was ist der Unterschied?

Selbsthilfegruppen sind kein Ersatz für professionelle Therapie, sondern eine Ergänzung. Hier die wichtigsten Unterschiede:

Selbsthilfegruppe

  • Von Betroffenen für Betroffene, keine professionelle Leitung
  • Fokus auf Erfahrungsaustausch und soziale Unterstützung
  • Meist kostenlos
  • Keine Diagnostik, keine therapeutischen Interventionen
  • Offener Zeitrahmen, oft langfristig

Psychotherapie

  • Professionell geleitet von ausgebildetem Therapeuten
  • Fokus auf Veränderung dysfunktionaler Muster, Symptomreduktion
  • Kostenpflichtig (aber oft von Kasse übernommen)
  • Diagnostik, strukturierte Interventionen, Behandlungsplan
  • Zeitlich begrenzt (meist 20–50 Sitzungen)

Kombination ist ideal

Viele Menschen profitieren davon, beides zu nutzen: In der Therapie bearbeiten Sie tiefer liegende Themen, lernen neue Strategien. In der Selbsthilfegruppe finden Sie soziale Unterstützung, Austausch und Alltagshilfe. Studien zeigen, dass diese Kombination oft bessere Ergebnisse bringt als Therapie allein.

Wann sind Selbsthilfegruppen nicht geeignet?

So wertvoll Selbsthilfegruppen sind, sie haben Grenzen:

  • Akute Krisen: Bei akuter Suizidalität, Psychose oder schwerer Depression braucht es professionelle Hilfe
  • Unbehandelte schwere Störungen: Selbsthilfe sollte nicht die erste Massnahme sein, wenn professionelle Diagnostik fehlt
  • Wenn die Gruppe schadet: Manche Gruppen entwickeln negative Dynamiken (gegenseitiges Verstärken negativer Gedanken, toxische Atmosphäre). Dann sollte man gehen.
  • Fehlende professionelle Begleitung bei komplexen Themen: Trauma, Sucht und Persönlichkeitsstörungen brauchen Fachpersonen

Selbsthilfegruppen sind eine Säule der Unterstützung, aber nicht die einzige. Im Idealfall arbeiten Selbsthilfe, Therapie und soziales Netz zusammen.

Selbsthilfegruppen im Überblick

  • Freiwilliger Zusammenschluss von Betroffenen zum gegenseitigen Austausch
  • Vorteile: Verständnis, praktisches Wissen, soziale Unterstützung, kostenlos
  • Arten: Depression, Burnout, Angst, Sucht, Trauer, Angehörige u.v.m.
  • Finden: über Selbsthilfe Schweiz und kantonale Kontaktstellen
  • Eigene Gruppe gründen: mit Unterstützung der Selbsthilfestellen möglich
  • Keine Therapie, aber therapeutisch wirksam, ideal als Ergänzung

Peer-Support als Ergänzung

Selbsthilfegruppen sind kein Allheilmittel, aber eine wertvolle Ressource, die oft zu wenig genutzt wird. Viele Menschen berichten, dass der Austausch mit anderen Betroffenen ihnen mehr geholfen hat als manche professionelle Massnahme, nicht weil Therapie unwirksam wäre, sondern weil Selbsthilfe eine andere Dimension abdeckt: das Gefühl, verstanden zu werden und nicht allein zu sein.

Wenn Sie überlegen, ob eine Selbsthilfegruppe für Sie infrage kommt: Probieren Sie es aus. Sie gehen kein Risiko ein, ausser einer Stunde Zeit. Und diese Stunde könnte der Beginn einer wichtigen Veränderung sein.