Was ist Stress?
Definition, Geschichte und Abgrenzung: Was meinen wir eigentlich, wenn wir von Stress sprechen? Eine Einführung in die Grundbegriffe.
Artikel lesenDas hormonelle Stresssystem erklärt: Wie Hypothalamus, Hypophyse und Nebennieren zusammenarbeiten und was passiert, wenn Cortisol dauerhaft erhöht ist.
Während Adrenalin und Noradrenalin für die Blitzreaktion bei akutem Stress zuständig sind, spielt sich bei länger anhaltender Belastung ein zweites System ab: die HPA-Achse. Sie ist die Kommandozentrale des hormonellen Stresssystems und produziert das wahrscheinlich bekannteste Stresshormon: Cortisol.
HPA steht für Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (englisch: Hypothalamic-Pituitary-Adrenal axis). Es handelt sich um eine Regelkaskade, bei der drei Organe nacheinander aktiviert werden:
Der Hypothalamus ist eine kleine, aber mächtige Schaltzentrale im Zwischenhirn. Wenn das Gehirn eine Bedrohung registriert, schüttet der Hypothalamus das Hormon CRH (Corticotropin-Releasing-Hormon) aus.
CRH erreicht die Hypophyse und regt dort die Ausschüttung von ACTH (Adrenocorticotropes Hormon) an. ACTH gelangt über den Blutkreislauf zu den Nebennieren.
ACTH stimuliert die Nebennierenrinde zur Produktion von Cortisol. Cortisol ist das Endprodukt dieser Kaskade und entfaltet im ganzen Körper Wirkung.
Diese mehrstufige Reaktion braucht etwas Zeit: Cortisol erreicht seinen Höchstwert etwa 20 bis 30 Minuten nach Stressbeginn. Deshalb ist Cortisol nicht für Sekundenreaktionen zuständig, sondern für länger anhaltenden Stress.
Cortisol hat zu Unrecht einen schlechten Ruf. In der richtigen Dosis und zum richtigen Zeitpunkt ist es überlebenswichtig. Seine Hauptaufgabe: Den Körper über einen längeren Zeitraum leistungsfähig halten.
Cortisol mobilisiert Energie aus verschiedenen Quellen: Es fördert den Abbau von Proteinen zu Aminosäuren, von Fetten zu Fettsäuren und steigert die Glukoseproduktion in der Leber. Das Ergebnis: Der Blutzuckerspiegel steigt, mehr Energie steht zur Verfügung.
Cortisol unterdrückt Entzündungsreaktionen und dämpft das Immunsystem. Kurzfristig ist das sinnvoll, denn in einer Notsituation sind Abwehrreaktionen gegen Krankheitserreger zweitrangig. Chronisch führt diese Immunsuppression aber zu erhöhter Infektanfälligkeit.
Cortisol beeinflusst die Gehirnaktivität: Es steigert die Wachheit und Aufmerksamkeit, kann aber bei dauerhafter Erhöhung auch Gedächtnis und Lernfähigkeit beeinträchtigen. Zudem interagiert Cortisol mit Neurotransmittern wie Serotonin und Dopamin – mit Auswirkungen auf die Stimmung.
Cortisol erhöht den Blutdruck und macht Gefässe empfindlicher für Adrenalin und Noradrenalin. Das unterstützt die Stressreaktion, belastet aber langfristig das Herz-Kreislauf-System.
Auch ohne Stress ist Cortisol im Körper präsent. Der Cortisolspiegel folgt einem zirkadianen Rhythmus, also einem Tagesrhythmus:
Dieser Rhythmus macht Sinn: Morgens brauchen wir Energie, um in den Tag zu starten. Abends sollte Cortisol niedrig sein, damit der Körper in den Ruhemodus schalten kann. Bei chronischem Stress gerät dieser Rhythmus durcheinander.
Die Cortisol-Aufwachreaktion (CAR): Etwa 30 bis 45 Minuten nach dem Aufwachen erreicht Cortisol seinen Tageshöchstwert. Diese natürliche Spitze aktiviert den Körper und bereitet ihn auf den Tag vor. Bei chronisch Gestressten kann diese Reaktion abgeflacht oder überhöht sein – ein Hinweis auf eine gestörte HPA-Achse.
Wenn Stress anhält und die HPA-Achse dauerhaft aktiviert ist, bleibt der Cortisolspiegel chronisch erhöht. Das hat weitreichende Folgen:
Dauerhaft erhöhtes Cortisol begünstigt die Einlagerung von viszeralem Fett (Bauchfett), erhöht den Blutzuckerspiegel und kann langfristig zu Insulinresistenz und Typ-2-Diabetes führen. Viele Menschen nehmen unter chronischem Stress zu, obwohl sie nicht mehr essen.
Die dauerhafte Unterdrückung des Immunsystems führt zu erhöhter Infektanfälligkeit. Gleichzeitig können paradoxerweise Entzündungsprozesse im Körper zunehmen, weil die Regulationsmechanismen entgleisen.
Chronisch erhöhtes Cortisol schädigt Nervenzellen, besonders im Hippocampus (wichtig für Gedächtnis und Lernen) und im präfrontalen Kortex (wichtig für Entscheidungsfindung und Emotionsregulation). Gleichzeitig wird die Amygdala (Angstzentrum) überaktiv. Das Ergebnis: schlechteres Gedächtnis, mehr Ängstlichkeit, Konzentrationsprobleme.
Bluthochdruck, erhöhte Herzfrequenz, Gefässversteifung – chronisch erhöhtes Cortisol ist ein Risikofaktor für Herzinfarkt und Schlaganfall.
Cortisol hemmt die Knochenbildung und fördert den Knochenabbau. Zudem wird Muskelgewebe abgebaut, um Energie bereitzustellen. Das Ergebnis: erhöhtes Osteoporose-Risiko, Muskelschwund.
Ein hoher Cortisolspiegel am Abend verhindert das Einschlafen, weil der Körper nicht in den Ruhemodus schalten kann. Schlechter Schlaf wiederum erhöht den Stresspegel. Es entsteht ein Teufelskreis.
Normalerweise reguliert sich die HPA-Achse selbst. Wenn genug Cortisol im Blut ist, melden Rezeptoren im Gehirn: «Stopp, es reicht.» Der Hypothalamus fährt die CRH-Produktion herunter, die Kaskade stoppt. Das nennt man negative Rückkopplung.
Bei chronischem Stress kann dieses System versagen. Die Rezeptoren werden weniger empfindlich (Downregulation), die Rückmeldung funktioniert nicht mehr richtig. Die HPA-Achse läuft auf Hochtouren, ohne abgeschaltet zu werden. In späten Stadien kann es auch zum Gegenteil kommen: Das System erschöpft sich, der Cortisolspiegel wird chronisch zu niedrig (Hypocortisolismus). Dieser Zustand wird mit Burnout in Verbindung gebracht.
Ja, Cortisol lässt sich im Blut, Speichel oder Urin messen. Am aussagekräftigsten ist die Messung des Tagesprofils über mehrere Zeitpunkte hinweg, idealerweise im Speichel. So lässt sich erkennen, ob der natürliche Rhythmus noch intakt ist oder gestört.
Allerdings: Ein einmaliger Wert sagt wenig aus. Cortisol schwankt stark, und viele Faktoren beeinflussen den Spiegel. Die Interpretation sollte immer im Kontext erfolgen und durch Fachpersonen geschehen.
Die HPA-Achse steht nicht isoliert da, sondern interagiert mit nahezu allen Körpersystemen. Chronische Überaktivierung wird mit zahlreichen Erkrankungen in Verbindung gebracht:
Das bedeutet nicht, dass Stress alleinige Ursache dieser Erkrankungen ist. Aber er ist ein wichtiger Faktor, der bestehende Risiken verstärkt.
Die gute Nachricht: Die HPA-Achse ist nicht starr. Sie kann sich regulieren und erholen, wenn chronischer Stress reduziert wird. Wichtige Ansatzpunkte:
Bei ausgeprägten Störungen der HPA-Achse kann professionelle Hilfe nötig sein – sowohl psychotherapeutisch als auch medizinisch.
Die HPA-Achse ist ein faszinierendes, hochkomplexes System. Es ermöglicht uns, mit Belastungen umzugehen und durchzuhalten. Gleichzeitig ist es sensibel und kann bei Dauerbelastung entgleisen. Wer die Mechanismen versteht, kann gezielter gegensteuern – und erkennen, wann es Zeit ist, professionelle Unterstützung zu suchen.