Was ist Stress?
Definition, Geschichte und Abgrenzung: Was meinen wir eigentlich, wenn wir von Stress sprechen? Eine Einführung in die Grundbegriffe.
Artikel lesenHerzrasen, Schwitzen, angespannte Muskeln: Was läuft ab, wenn der Körper auf Stress reagiert? Ein Blick auf die biologischen Mechanismen hinter Fight, Flight und Freeze.
Ein wichtiger Termin steht bevor. Plötzlich wird der Puls schneller, die Handflächen werden feucht, die Atmung flacher. Der Körper schaltet in den Alarmmodus. Was sich wie ein Kontrollverlust anfühlt, ist in Wahrheit ein hocheffizienter Überlebensmechanismus, der seit Jahrtausenden funktioniert.
Unser vegetatives Nervensystem besteht aus zwei Gegenspielern: dem Sympathikus (Aktivierung) und dem Parasympathikus (Entspannung). Bei Stress übernimmt der Sympathikus die Kontrolle. Er ist der «Gaspedal-Nerv», der den Körper auf Höchstleistung trimmt.
Die Aktivierung läuft in Sekundenbruchteilen ab, noch bevor wir bewusst über die Situation nachdenken können. Das ist evolutionär sinnvoll: Wer erst überlegt, ob der Säbelzahntiger wirklich gefährlich ist, hat bereits verloren. Der Körper handelt, das Denken kommt später.
Wenn das Gehirn eine potenzielle Bedrohung erkennt, löst es eine von drei Notfallreaktionen aus:
Der Körper bereitet sich darauf vor, sich zu verteidigen oder anzugreifen. Muskeln spannen sich an, Aggression steigt, der Fokus verengt sich auf die Bedrohung. Diese Reaktion zeigt sich heute etwa in heftigen Konflikten am Arbeitsplatz oder im Strassenverkehr.
Alle Systeme werden auf Flucht optimiert. Das Herz pumpt mehr Blut in die Beinmuskulatur, die Aufmerksamkeit richtet sich auf Fluchtwege. In modernen Kontexten zeigt sich diese Reaktion oft als Vermeidung: Wir verlassen den Raum, meiden Konfrontationen, ziehen uns zurück.
Wenn weder Kampf noch Flucht möglich erscheinen, schaltet der Körper in den Freeze-Modus. Bewegungen werden minimal, die Atmung flach, manchmal tritt eine Art Taubheit ein. Diese Reaktion wirkt paradox, ist aber evolutionär sinnvoll: Viele Raubtiere reagieren auf Bewegung. Wer erstarrt, wird möglicherweise übersehen. Heute erleben Menschen diese Reaktion etwa bei Vorträgen (Blackout), in Schocksituationen oder bei Überwältigung.
Wichtig: Wir können nicht bewusst wählen, welche der drei Reaktionen eintritt. Das Gehirn entscheidet blitzschnell anhand der Situation und früherer Erfahrungen. Diese automatische Reaktion zu kennen, hilft dabei, sich selbst nicht zu verurteilen, wenn man «nicht richtig» reagiert hat.
Sobald das sympathische Nervensystem aktiviert ist, schütten die Nebennieren Adrenalin und Noradrenalin aus. Diese Botenstoffe wirken innerhalb von Sekunden und bewirken eine Kaskade körperlicher Veränderungen:
Diese Veränderungen machen Sinn, wenn man vor einem Raubtier flieht. Sie sind aber problematisch, wenn der «Feind» eine E-Mail, ein Meeting oder eine Deadline ist. Der Körper unterscheidet nicht zwischen physischer und psychischer Bedrohung – die Reaktion ist dieselbe.
Eine typische Stressreaktion läuft in mehreren Phasen ab:
Phase 1: Schreckreaktion (0-2 Sekunden)
Blitzschnelle, unbewusste Bewertung der Bedrohung durch die Amygdala (Mandelkern im Gehirn). Sofortige Aktivierung des Sympathikus.
Phase 2: Widerstandsphase (Sekunden bis Minuten)
Adrenalin und Noradrenalin fluten den Körper. Alle Systeme laufen auf Hochtouren. Der präfrontale Kortex (rationales Denken) wird teilweise «abgeschaltet», um schnelles Handeln zu ermöglichen.
Phase 3: Erholungsphase (Minuten bis Stunden)
Wenn die Bedrohung vorbei ist, übernimmt der Parasympathikus wieder die Kontrolle. Herzfrequenz sinkt, Atmung normalisiert sich, Körper kehrt in den Ruhezustand zurück.
Bei chronischem Stress kommt es nie zur vollständigen Erholung. Der Körper bleibt in einer Art Daueralarmzustand – mit entsprechenden Folgen.
Unser Stresssystem wurde für kurze, intensive Bedrohungen optimiert: Raubtier auftaucht, Körper reagiert, Gefahr ist nach Minuten vorbei, Erholung setzt ein. Moderne Stressoren funktionieren anders:
Das Ergebnis: Der Körper mobilisiert ständig Energie für Kampf oder Flucht, aber diese Energie wird nicht abgebaut. Das führt zu innerer Unruhe, Muskelverspannungen, Schlafproblemen und langfristig zu gesundheitlichen Schäden.
Vor 100'000 Jahren war diese Reaktion überlebenswichtig. Wer schneller reagierte, überlebte. Wer zögerte, wurde gefressen. Unsere Vorfahren standen echten, konkreten Bedrohungen gegenüber, auf die der Körper mit Kampf oder Flucht reagieren konnte.
Heute leben wir in einer völlig anderen Welt, aber unser Nervensystem hat sich nicht angepasst. Es reagiert auf eine E-Mail vom Chef mit demselben Mechanismus wie auf einen Säbelzahntiger. Das ist nicht «falsch» – es ist einfach ein Mismatch zwischen uralter Biologie und moderner Umwelt.
Diese Erkenntnisse sind nicht nur akademisch interessant, sondern praktisch relevant:
Erstens: Die körperlichen Symptome bei Stress sind normal. Sie bedeuten nicht, dass etwas mit uns nicht stimmt, sondern dass ein uraltes Programm abläuft.
Zweitens: Wir brauchen körperliche Ventile. Da moderne Stressoren keine physische Reaktion erlauben, müssen wir aktiv für Bewegung sorgen, um die mobilisierte Energie abzubauen.
Drittens: Die Erholungsphase ist nicht optional. Ohne regelmässige Aktivierung des Parasympathikus bleibt der Körper im Dauerstress.
Im nächsten Artikel schauen wir uns an, was passiert, wenn dieser akute Mechanismus chronisch wird – wenn also nicht Adrenalin, sondern das Stresshormon Cortisol die Hauptrolle spielt.