Viele Arbeitnehmende wissen nicht, dass der Arbeitgeber in der Schweiz nicht nur für die körperliche, sondern auch für die psychische Gesundheit seiner Angestellten verantwortlich ist. Die rechtlichen Grundlagen sind klar: Arbeitgeber sind verpflichtet, die Persönlichkeit der Arbeitnehmenden zu schützen und deren Gesundheit zu wahren. Dies schliesst den Schutz vor krankmachendem Stress ausdrücklich ein.
Die Fürsorgepflicht nach Art. 328 OR
Das Schweizer Obligationenrecht legt in Artikel 328 unmissverständlich fest, dass der Arbeitgeber zum Schutz der Persönlichkeit des Arbeitnehmenden verpflichtet ist. Absatz 1 besagt:
Diese Fürsorgepflicht ist umfassend und schliesst psychosoziale Risiken wie chronischen Stress, Überlastung und Mobbing explizit mit ein. Der Arbeitgeber muss nicht erst tätig werden, wenn bereits ein Schaden eingetreten ist, denn er ist zur Prävention verpflichtet.
Was bedeutet das konkret?
Die Fürsorgepflicht umfasst unter anderem:
- Die Gestaltung von Arbeitsabläufen, die übermässige Belastung vermeiden
- Angemessene Ressourcen zur Erfüllung der übertragenen Aufgaben
- Klare Kommunikation von Erwartungen und Prioritäten
- Massnahmen gegen Mobbing und andere Formen psychischer Belastung
- Möglichkeiten zur Erholung und Einhaltung der Arbeitszeitbestimmungen
- Unterstützung bei aussergewöhnlichen Belastungssituationen
Das Arbeitsgesetz (ArG) und die Verordnungen
Während das OR die zivilrechtliche Grundlage schafft, regelt das Arbeitsgesetz die konkreten Schutzmassnahmen. Artikel 6 ArG verpflichtet den Arbeitgeber, "zum Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmer alle Massnahmen zu treffen, die nach der Erfahrung notwendig, nach dem Stand der Technik anwendbar und den Verhältnissen des Betriebes angemessen sind."
Die Verordnung 3 zum Arbeitsgesetz (ArGV 3) konkretisiert dies in Artikel 2:
Beachten Sie die explizite Erwähnung der "psychischen Gesundheit". Der Gesetzgeber hat hier bewusst eine klare Formulierung gewählt.
Psychosoziale Risiken gemäss ArGV 3
Artikel 2 Absatz 4 ArGV 3 führt psychosoziale Risiken als eigenständige Gefährdungskategorie auf. Dazu gehören:
- Arbeitsüberlastung und Zeitdruck
- Widersprüchliche Anforderungen
- Fehlende Handlungsspielräume
- Soziale Konflikte am Arbeitsplatz
- Unklare Zuständigkeiten und Rollenkonflikte
- Mangelnde soziale Unterstützung
Die SECO-Richtlinien zu psychosozialen Risiken
Das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) hat detaillierte Wegleitungen zur Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben publiziert. Die Broschüre "Psychosoziale Risiken am Arbeitsplatz" (SECO-Publikation 6085) bietet Arbeitgebern konkrete Handlungsanleitungen.
Das SECO definiert schädlichen Stress als Situation, in der die Anforderungen die verfügbaren Ressourcen dauerhaft übersteigen. Entscheidend ist dabei das Wort "dauerhaft", denn kurzfristige Belastungsspitzen sind normal, chronische Überlastung jedoch nicht hinnehmbar.
Wichtig zu wissen
Die SECO-Richtlinien sind zwar nicht direkt Gesetz, gelten jedoch als Konkretisierung der gesetzlichen Pflichten. Arbeitsinspektorate orientieren sich bei Kontrollen an diesen Standards.
Risikobeurteilung und Prävention
Der Arbeitgeber ist verpflichtet, eine systematische Risikobeurteilung durchzuführen. Diese muss auch psychosoziale Gefährdungen erfassen. Die Beurteilung erfolgt typischerweise in drei Schritten:
- Identifikation: Welche psychosozialen Risiken existieren im Betrieb?
- Bewertung: Wie hoch ist das Gefährdungspotenzial?
- Massnahmen: Welche Schutzmassnahmen sind erforderlich und verhältnismässig?
Diese Beurteilung muss dokumentiert werden und ist regelmässig zu aktualisieren. Bei Betrieben ab 10 Mitarbeitenden ist ein Sicherheitskonzept obligatorisch, das auch psychosoziale Risiken abdecken muss.
Was können Sie vom Arbeitgeber verlangen?
Aus den gesetzlichen Verpflichtungen leiten sich konkrete Rechte für Arbeitnehmende ab:
1. Angemessene Arbeitsbedingungen
Sie haben ein Recht auf Arbeitsbedingungen, die Ihre Gesundheit nicht gefährden. Dazu gehört eine realistische Arbeitsbelastung. Wenn Sie dauerhaft mehr Aufgaben zugewiesen bekommen, als Sie in der vereinbarten Arbeitszeit bewältigen können, liegt eine Verletzung der Fürsorgepflicht vor.
2. Klare Aufgabendefinition und Ressourcen
Sie können verlangen, dass Ihre Aufgaben klar definiert sind und Ihnen die notwendigen Mittel zur Verfügung stehen. Widersprüchliche Anweisungen oder fehlende Ressourcen sind psychosoziale Risikofaktoren, die der Arbeitgeber beseitigen muss.
3. Einhaltung der Arbeitszeiten
Das Arbeitsgesetz sieht verbindliche Höchstarbeitszeiten und Ruhezeiten vor. Die regelmässige Missachtung dieser Bestimmungen ist nicht nur eine Verletzung des ArG, sondern auch der Fürsorgepflicht.
4. Schutz vor Mobbing und Diskriminierung
Der Arbeitgeber muss gegen Mobbing und andere Formen psychischer Belastung durch Vorgesetzte oder Kollegen aktiv vorgehen. Ein blosses Wegschauen ist eine Verletzung der Fürsorgepflicht.
Ihr Handlungsspielraum
Wenn Sie gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen feststellen, können Sie:
- Das Gespräch mit dem Vorgesetzten oder der Personalabteilung suchen
- Die Arbeitssicherheitsbeauftragten oder den Betriebsarzt einschalten
- Bei fehlenden Massnahmen die kantonalen Arbeitsinspektorate informieren
- Im Extremfall das Arbeitsrecht in Anspruch nehmen und auf Schadenersatz klagen
Durchsetzung Ihrer Rechte
Die Kenntnis Ihrer Rechte ist der erste Schritt. Die Durchsetzung kann jedoch herausfordernd sein, insbesondere wenn Sie befürchten, dadurch Ihre Position im Unternehmen zu gefährden.
Der Weg zum Arbeitsinspektorat
Jeder Kanton verfügt über ein Arbeitsinspektorat, das die Einhaltung des Arbeitsgesetzes überwacht. Sie können dort Meldung erstatten, auch anonymisiert. Das Inspektorat kann Kontrollen durchführen und Massnahmen anordnen.
Wichtig: Die Meldung ans Arbeitsinspektorat ist keine "Verpfeifung", sondern die Wahrnehmung eines gesetzlich vorgesehenen Schutzmechanismus. Arbeitgeber dürfen Sie dafür nicht sanktionieren.
Gewerkschaften und Berufsverbände
Gewerkschaften bieten Rechtsberatung und können Sie bei der Durchsetzung Ihrer Ansprüche unterstützen. Auch wenn Sie nicht Mitglied sind, können viele Organisationen Erstberatungen anbieten.
Rechtliche Schritte
Als letztes Mittel können Sie zivilrechtlich gegen den Arbeitgeber vorgehen. Mögliche Ansprüche umfassen:
- Schadenersatz bei Gesundheitsschäden durch Verletzung der Fürsorgepflicht
- Genugtuung bei schweren Persönlichkeitsverletzungen
- Unterlassungsansprüche zur Beendigung gesundheitsgefährdender Zustände
Beweisproblematik
Bei rechtlichen Auseinandersetzungen liegt die Beweislast grundsätzlich bei Ihnen. Dokumentieren Sie deshalb sorgfältig: Notieren Sie Überlastungssituationen, sammeln Sie E-Mails und andere Nachweise, führen Sie ein Arbeitszeit-Protokoll. Ärztliche Atteste können die Kausalität zwischen Arbeitsbedingungen und Gesundheitsschäden belegen.
Besonderheiten bei Gesamtarbeitsverträgen
Wenn für Ihr Arbeitsverhältnis ein Gesamtarbeitsvertrag (GAV) gilt, können darin weitergehende Schutzbestimmungen vereinbart sein. Prüfen Sie Ihren GAV auf Regelungen zu:
- Maximalarbeitszeiten und Überstundenregelungen
- Betrieblichen Gesundheitsschutz
- Paritätische Kommissionen, die bei Konflikten vermitteln
- Besondere Kündigungsschutzbestimmungen
Grenzen der Arbeitgeberpflicht
So umfassend die Fürsorgepflicht ist, sie hat Grenzen. Der Arbeitgeber muss Zumutbares tun, ist aber nicht Garant für Ihr Wohlbefinden. Normale Arbeitsbelastung, gelegentlicher Zeitdruck oder sachlich begründete Kritik sind vom Arbeitsvertrag umfasst.
Entscheidend ist das Mass: Wird aus gelegentlichem Stress chronische Überlastung? Aus einmaligem Konflikt ein systematisches Mobbing? Aus erhöhten Anforderungen eine objektive Überforderung?
Die Rechtsprechung stellt auf das Kriterium der Zumutbarkeit ab. Massgeblich ist dabei nicht Ihr subjektives Empfinden allein, sondern eine objektive Betrachtung: Was kann einem durchschnittlichen Arbeitnehmer in Ihrer Position zugemutet werden?
Ihre Eigenverantwortung
Sie haben nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Dazu gehört die Mitwirkung am Gesundheitsschutz. Konkret bedeutet dies:
- Meldung von Überlastungssituationen an den Arbeitgeber
- Inanspruchnahme angebotener Unterstützung (z.B. betriebliche Sozialberatung)
- Nutzung von Pausen und Erholungszeiten
- Rechtzeitige ärztliche Abklärung bei Stresssymptomen
Wer Überlastung verschweigt und irgendwann zusammenbricht, kann sich nicht ohne weiteres auf eine Fürsorgepflichtverletzung berufen. Der Arbeitgeber kann nur reagieren, wenn er von der Situation weiss.
Rechte kennen, Rechte nutzen
Das Schweizer Arbeitsrecht bietet einen substanziellen Schutz vor gesundheitsschädigendem Stress am Arbeitsplatz. Die gesetzlichen Grundlagen sind klar, und die Pflichten der Arbeitgeber umfassend. Dennoch: Rechte, die man nicht kennt, kann man nicht wahrnehmen.
Informieren Sie sich über Ihre Position. Sprechen Sie Probleme frühzeitig an. Nutzen Sie interne und externe Unterstützungsangebote. Und zögern Sie nicht, bei schwerwiegenden Verstössen die zuständigen Behörden oder rechtliche Beratung einzuschalten. Ihre Gesundheit ist das wertvollste Gut, auch und gerade im Arbeitsverhältnis.