Schweizer Magazin für psychische Gesundheit
NOTFALL 143

Lohnfortzahlung und Taggeld

Wie lange zahlt der Arbeitgeber bei Krankheit? Was ist die Krankentaggeldversicherung und wie funktioniert sie? Ein Überblick über die finanzielle Absicherung im Krankheitsfall.

Die Diagnose einer stressbedingten Erkrankung wirft nicht nur gesundheitliche, sondern auch drängende finanzielle Fragen auf: Bekomme ich weiterhin meinen vollen Lohn? Wie lange? Was passiert, wenn die Krankheit länger dauert? Das Schweizer System der Lohnfortzahlung und des Krankentaggeldes ist komplex, aber verständlich, wenn man die Grundprinzipien kennt.

Die Lohnfortzahlungspflicht nach Art. 324a OR

Grundsätzlich ist der Arbeitgeber verpflichtet, bei unverschuldeter Arbeitsverhinderung (etwa durch Krankheit) den Lohn für eine "beschränkte Zeit" weiterzuzahlen. Artikel 324a OR besagt:

Was "beschränkte Zeit" konkret bedeutet, ist im Gesetz nicht definiert. Hier kommen die sogenannten Lohnfortzahlungsskalen ins Spiel.

Die drei klassischen Skalen

In der Schweiz haben sich drei Berechnungsmethoden etabliert, die je nach Dienstjahren unterschiedlich lange Lohnfortzahlungsfristen vorsehen. Diese Skalen sind nicht gesetzlich vorgeschrieben, sondern haben sich durch die Rechtsprechung entwickelt und gelten als "üblich".

Die Berner Skala

Die Berner Skala ist die am weitesten verbreitete und gilt als Standard bei fehlendem Arbeitsvertrag oder GAV. Sie wurde vom Obergericht Bern entwickelt und staffelt die Lohnfortzahlungsdauer nach Dienstjahren:

Dienstjahre Lohnfortzahlung
1. Dienstjahr 3 Wochen mit 100% Lohn
2. Dienstjahr 1 Monat mit 100% Lohn
3. und 4. Dienstjahr 2 Monate mit 100% Lohn
5. bis 9. Dienstjahr 3 Monate mit 100% Lohn
10. bis 14. Dienstjahr 4 Monate mit 100% Lohn
15. bis 19. Dienstjahr 5 Monate mit 100% Lohn
20. bis 25. Dienstjahr 6 Monate mit 100% Lohn

Nach Ablauf dieser Fristen endet die Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers, es sei denn, es besteht eine Krankentaggeldversicherung (dazu gleich mehr).

Die Basler Skala

Die Basler Skala ist etwas grosszügiger und teilt die Lohnfortzahlung in Vollohn- und Halbohnphasen:

Dienstjahre Voller Lohn Halber Lohn
1. Dienstjahr 3 Monate
Ab 2. Dienstjahr 2 Monate 1 Monat
Ab 3. Dienstjahr 2 Monate 2 Monate
Ab 5. Dienstjahr 3 Monate 3 Monate
Ab 10. Dienstjahr 4 Monate 4 Monate
Ab 15. Dienstjahr 5 Monate 5 Monate
Ab 20. Dienstjahr 6 Monate 6 Monate

Die Basler Skala kann bei längeren Krankheiten vorteilhafter sein, da sie auch nach der Vollohnphase noch einen Halblohn vorsieht.

Die Zürcher Skala

Die Zürcher Skala liegt zwischen Berner und Basler Skala. Sie sieht im ersten Jahr zwei Monate vollen Lohn vor, ab dem zweiten Jahr zwei Monate vollen und einen Monat halben Lohn, und steigert sich dann analog zur Basler Skala.

Welche Skala gilt für Sie?

Massgeblich ist, was in Ihrem Arbeitsvertrag oder im geltenden Gesamtarbeitsvertrag (GAV) vereinbart wurde. Fehlt eine ausdrückliche Regelung, gilt in der Regel die Berner Skala als "ortsüblich". Prüfen Sie Ihren Vertrag genau, denn manche Arbeitgeber vereinbaren auch individuell abweichende Regelungen.

Die Krankentaggeldversicherung (KTG)

Viele Arbeitgeber schliessen eine kollektive Krankentaggeldversicherung (KTG) ab. Diese Versicherung übernimmt die Lohnfortzahlung anstelle des Arbeitgebers und bietet in der Regel längere und höhere Leistungen als die gesetzlichen Skalen.

So funktioniert die KTG

Die KTG ist eine private Versicherung, die typischerweise folgende Leistungen erbringt:

  • Leistungshöhe: In der Regel 80% des versicherten Lohnes (manchmal auch 90%)
  • Leistungsdauer: Meist 720 oder 730 Tage (2 Jahre)
  • Wartefrist: Oft 30 oder 60 Tage, während derer der Arbeitgeber direkt zahlt
  • Koordination mit Unfallversicherung: Bei Unfällen zahlt die Unfallversicherung, nicht die KTG

Die KTG-Prämien werden je nach Vereinbarung vom Arbeitgeber allein oder hälftig mit dem Arbeitnehmer geteilt. Prüfen Sie Ihre Lohnabrechnung. Wenn Sie Prämien an die KTG zahlen, steht dort meist "KTG" oder "Krankentaggeld".

KTG vs. Skalen: Was gilt?

Wenn der Arbeitgeber eine KTG abgeschlossen hat, ersetzt diese in der Regel die Lohnfortzahlung nach den Skalen. Der Arbeitgeber zahlt nicht zusätzlich. Das bedeutet:

  • Sie erhalten nicht 100% vom Arbeitgeber plus 80% von der KTG
  • Die KTG-Leistung (z.B. 80%) ist Ihre einzige Einkommensquelle während der Krankheit
  • Allerdings ist die Leistungsdauer meist deutlich länger (2 Jahre statt z.B. 3 Monate)

Vorsicht Einkommenslücke

Wenn Ihre KTG nur 80% abdeckt, fehlen Ihnen 20% Ihres Lohnes. Bei längerer Krankheit kann dies zu finanziellen Engpässen führen. Manche Versicherer bieten freiwillige Zusatzversicherungen an, um diese Lücke zu schliessen. Prüfen Sie frühzeitig Ihre Möglichkeiten.

KTG vs. Krankenkasse: Der wichtige Unterschied

Viele verwechseln die Krankentaggeldversicherung (KTG) mit der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (Krankenkasse). Das sind jedoch zwei völlig verschiedene Dinge:

Merkmal Krankenkasse (KVG) Krankentaggeld (KTG)
Zweck Zahlt Arztkosten, Medikamente, Spitalaufenthalte Ersetzt verlorenen Lohn bei Arbeitsunfähigkeit
Obligatorisch? Ja, für alle in der Schweiz Nein, freiwillig (ausser bei einigen GAV)
Wer zahlt? Sie selbst (Prämie) Arbeitgeber allein oder gemeinsam mit Ihnen
Leistung Kostenerstattung für Behandlung 80-90% des Lohnes bei Arbeitsunfähigkeit
Dauer Unbegrenzt (solange medizinisch notwendig) Begrenzt (meist 2 Jahre)

Ihre Krankenkasse zahlt also die Arztrechnungen, nicht Ihren Lohn. Dafür brauchen Sie entweder die Lohnfortzahlung des Arbeitgebers oder eine KTG.

Freiwilliges Krankentaggeld bei der Krankenkasse

Sie können bei Ihrer Krankenkasse auch eine freiwillige Krankentaggeldversicherung abschliessen, zusätzlich zur obligatorischen Grundversicherung. Diese funktioniert ähnlich wie die betriebliche KTG, ist aber individuell und unabhängig vom Arbeitgeber.

Dies kann sinnvoll sein, wenn:

  • Ihr Arbeitgeber keine KTG anbietet
  • Sie selbständig sind
  • Sie sich gegen Einkommensverlust bei Krankheit absichern möchten

Was passiert nach Ablauf des Taggeldes?

Nach 2 Jahren KTG-Leistungen (oder nach Ablauf der Lohnfortzahlungsfrist bei fehlendem KTG) endet die Zahlung. Was dann?

Die Invalidenversicherung (IV)

Wenn Sie nach 2 Jahren immer noch arbeitsunfähig sind, kommt die Invalidenversicherung (IV) ins Spiel. Die IV ist eine staatliche Sozialversicherung, die bei dauerhafter Erwerbsunfähigkeit Leistungen erbringt.

Wichtig: Die IV springt nicht automatisch ein. Sie müssen sich aktiv anmelden, und zwar rechtzeitig. Idealerweise sollten Sie die IV-Anmeldung bereits einreichen, wenn absehbar ist, dass die Arbeitsunfähigkeit länger dauert (spätestens nach 6 Monaten Krankheit).

Der IV-Prozess

Der Weg zur IV-Rente ist langwierig:

  1. Anmeldung: Sie melden sich bei der IV-Stelle Ihres Wohnkantons an
  2. Abklärung: Die IV prüft, ob Eingliederungsmassnahmen möglich sind (z.B. Umschulung, Arbeitsversuch)
  3. Gutachten: Bei unklarer Situation ordnet die IV ein medizinisches Gutachten an
  4. Rentenverfügung: Erst nach Abschluss aller Massnahmen entscheidet die IV über eine Rente

Dieser Prozess kann 1-3 Jahre dauern. Während dieser Zeit besteht oft eine Einkommenslücke, die Sie durch Ersparnisse, Unterstützung der Familie oder Sozialhilfe überbrücken müssen.

Eingliederung vor Rente

Die IV hat den Auftrag, Menschen wieder ins Erwerbsleben einzugliedern. Eine Rente ist das letzte Mittel. Rechnen Sie damit, dass die IV zuerst Eingliederungsmassnahmen vorschlägt (Therapien, berufliche Massnahmen, schrittweise Wiedereingliederung). Nur wenn diese nicht erfolgreich sind, wird eine Rente gesprochen.

Höhe der IV-Rente

Die IV-Rente richtet sich nach dem Invaliditätsgrad:

  • Mindestens 40% Invalidität notwendig für eine Rente
  • Bei 40-49%: Viertelrente
  • Bei 50-59%: Halbe Rente
  • Bei 60-69%: Dreiviertelsrente
  • Ab 70%: Ganze Rente

Die maximale IV-Rente beträgt aktuell (2025) CHF 2'450 pro Monat (Einzelperson) bzw. CHF 3'675 (Ehepaar). Das ist deutlich weniger als die meisten Löhne. Wer darauf angewiesen ist, muss mit erheblichen Einkommenseinbussen rechnen.

Berechnung: Was steht Ihnen zu?

Ein Rechenbeispiel zur Veranschaulichung:

Dieses Beispiel zeigt die dramatische Einkommenslücke nach Auslaufen der KTG. Deshalb ist Prävention so wichtig, und falls es doch zur Langzeiterkrankung kommt, ist frühzeitige Planung entscheidend.

Koordination bei Teilarbeitsunfähigkeit

Oft sind Betroffene nicht zu 100%, sondern nur teilweise arbeitsunfähig (z.B. 50% oder 80%). In diesem Fall wird die Leistung entsprechend angepasst:

  • Bei 50% Arbeitsunfähigkeit: 50% Lohnfortzahlung bzw. 50% KTG-Leistung
  • Sie können daneben 50% arbeiten und erhalten dafür 50% Ihres Lohnes
  • Total sollten Sie theoretisch wieder 100% Einkommen haben

In der Praxis funktioniert dies jedoch nicht immer reibungslos. Manche Arbeitgeber können keine Teilzeitstelle anbieten, oder die Tätigkeit lässt sich nicht sinnvoll reduzieren. Klären Sie frühzeitig mit Ihrem Arbeitgeber, ob Teilzeitarbeit möglich ist.

Häufige Fehler und wie Sie sie vermeiden

Fehler 1: Zu späte IV-Anmeldung

Viele warten zu lange mit der IV-Anmeldung. Resultat: Die KTG läuft aus, aber die IV zahlt noch nicht. Melden Sie sich spätestens nach 6 Monaten bei der IV an, wenn absehbar ist, dass die Arbeitsunfähigkeit länger dauert.

Fehler 2: Unkenntnis über KTG-Bedingungen

Lesen Sie die KTG-Policen genau. Manche haben Ausschlussklauseln (z.B. für psychische Erkrankungen) oder setzen eine Mindestarbeitsunfähigkeit voraus (z.B. mindestens 50%). Klären Sie im Zweifelsfall frühzeitig mit der Versicherung ab.

Fehler 3: Fehlende Dokumentation

Sowohl für KTG als auch IV sind ärztliche Bescheinigungen entscheidend. Lassen Sie sich von Anfang an alle Arbeitsunfähigkeitszeugnisse ausstellen und sammeln Sie diese sorgfältig. Lücken in der Dokumentation können zu Leistungsverweigerungen führen.

Fehler 4: Falsche Annahmen über Krankenkasse

Die Krankenkasse zahlt keinen Lohn. Verlassen Sie sich nicht darauf. Klären Sie frühzeitig, ob eine KTG besteht, und schliessen Sie im Zweifelsfall selbst eine ab.

Was tun bei Leistungsverweigerung?

Manchmal verweigern KTG-Versicherungen die Zahlung, etwa mit der Begründung, die Arbeitsunfähigkeit sei nicht ausreichend belegt oder es liege ein Vorerkrankungsausschluss vor.

In diesem Fall:

  1. Verlangen Sie eine schriftliche, detaillierte Begründung
  2. Lassen Sie die Ablehnung durch einen Anwalt oder eine Rechtsschutzversicherung prüfen
  3. Reichen Sie gegebenenfalls Widerspruch ein
  4. Im Extremfall: Klage vor Gericht

Rechtliche Auseinandersetzungen mit Versicherungen können langwierig sein. Holen Sie sich professionelle Hilfe.

Frühzeitig informieren

Das System der Lohnfortzahlung und des Krankentaggeldes in der Schweiz ist komplex, bietet aber bei richtiger Kenntnis einen substanziellen Schutz. Entscheidend ist, dass Sie frühzeitig wissen, welche Ansprüche Sie haben, wie lange diese dauern und was danach kommt.

Prüfen Sie Ihren Arbeitsvertrag, Ihre KTG-Bedingungen und informieren Sie sich über die IV-Anmeldung, sobald absehbar ist, dass Ihre Arbeitsunfähigkeit länger dauert. Die finanzielle Absicherung ist ein wichtiger Teil der Genesung, denn Geldsorgen verschlimmern Stress und verzögern die Heilung.

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