Die Diagnose Burnout oder eine andere stressbedingte Erkrankung wirft bei vielen Betroffenen sofort die Frage auf: Kann ich jetzt gekündigt werden? Die Antwort ist differenziert: Während der Krankheit besteht ein zeitlich begrenzter Kündigungsschutz. Danach gelten jedoch wieder die normalen Kündigungsregeln. Entscheidend ist, die Mechanismen zu verstehen und seine Rechte zu kennen.
Die Sperrfristen gemäss Art. 336c OR
Das Schweizer Obligationenrecht schützt Arbeitnehmende während Krankheit vor Kündigungen durch eine sogenannte Sperrfrist. Artikel 336c Absatz 1 lit. b OR besagt:
Diese Regelung ist zwingend. Arbeitgeber und Arbeitnehmer können nicht zu Ungunsten des Arbeitnehmers davon abweichen. Die Sperrfrist beginnt am Tag der Arbeitsunfähigkeit, nicht erst mit Zustellung eines Arztzeugnisses.
Die drei Sperrfrist-Stufen im Detail
| Dienstjahre | Dauer der Sperrfrist | Beispiel |
|---|---|---|
| 1. Dienstjahr | 30 Tage | Bei Eintritt 1. Januar 2024 gilt bis 31. Dezember 2024 die 30-Tage-Frist |
| 2. bis 5. Dienstjahr | 90 Tage | Ab 1. Januar 2025 gilt für vier Jahre die 90-Tage-Frist |
| Ab 6. Dienstjahr | 180 Tage | Ab 1. Januar 2029 gilt unbefristet die 180-Tage-Frist |
Wichtig: Massgeblich für die Berechnung der Dienstjahre ist der tatsächliche Beginn des Arbeitsverhältnisses, nicht die Probezeit. Die Probezeit wird mitgezählt.
Wie funktioniert die Sperrfrist in der Praxis?
Die Sperrfrist schützt nicht vor der Kündigung an sich, sondern verlängert die Kündigungsfrist. Vereinfacht gesagt: Eine während der Krankheit ausgesprochene Kündigung ist nichtig und muss nach Ablauf der Sperrfrist erneut ausgesprochen werden.
Szenario 1: Kündigung vor der Krankheit
Wenn Sie bereits eine Kündigung erhalten haben und danach erkranken, wird die laufende Kündigungsfrist unterbrochen. Sie läuft erst nach Ablauf der Sperrfrist weiter. Die bereits abgelaufene Zeit wird angerechnet.
Beispiel: Sie erhalten am 31. Januar eine Kündigung auf Ende März (2 Monate). Am 15. Februar erkranken Sie für 60 Tage. Die Kündigungsfrist wird am 15. Februar unterbrochen. Nach 60 Tagen (Mitte April) läuft sie weiter. Sie haben noch 15 Tage der ursprünglichen Frist übrig, das Arbeitsverhältnis endet somit Ende April statt Ende März.
Szenario 2: Kündigung während der Krankheit
Eine während der Sperrfrist ausgesprochene Kündigung ist gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung nichtig. Der Arbeitgeber muss nach Ende der Sperrfrist eine neue Kündigung aussprechen, wenn er das Arbeitsverhältnis beenden will.
Beispiel: Sie sind seit 1. März krankgeschrieben. Am 15. März erhalten Sie eine Kündigung. Diese ist unwirksam. Nach 90 Tagen (Ende Mai) endet Ihre Sperrfrist. Wenn der Arbeitgeber Sie dann erneut kündigt, läuft ab diesem Zeitpunkt die normale Kündigungsfrist.
Mehrfache Erkrankungen im selben Jahr
Ein häufiges Missverständnis betrifft die Berechnung bei mehrfachen Erkrankungen. Die Sperrfrist bezieht sich nicht auf jede einzelne Krankheitsphase, sondern auf die Summe der Krankheitstage innerhalb eines Jahres.
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung beginnt ein neues "Jahr" im Sinne von Art. 336c OR jeweils mit dem ersten Krankheitstag einer neuen Krankheitsphase, wenn seit der letzten Krankheit eine gewisse Zeit (in der Regel mehrere Monate) verstrichen ist und es sich um eine neue, unabhängige Erkrankung handelt.
Komplexe Berechnung bei chronischen Leiden
Bei chronischen oder wiederkehrenden psychischen Erkrankungen kann die Berechnung komplex werden. Burnout-Fälle mit mehrfachen Rückfällen sind besonders schwierig zu beurteilen. Im Zweifelsfall sollten Sie sich anwaltlich beraten lassen.
Nach Ablauf der Sperrfrist: Was dann?
Der häufigste Irrtum: Viele glauben, nach Ablauf der Sperrfrist seien sie "sicher". Das Gegenteil ist der Fall. Nach Ablauf der Sperrfrist kann der Arbeitgeber unter Einhaltung der normalen Kündigungsfrist ordentlich kündigen, auch wenn Sie noch krankgeschrieben sind.
Die Sperrfrist schützt also nur temporär. Sie verschafft Zeit zur Genesung, ist aber kein dauerhafter Bestandsschutz. Wenn Sie nach 180 Tagen immer noch oder erneut arbeitsunfähig sind, können Sie gekündigt werden.
Langzeiterkrankungen und Prognose
Bei Langzeiterkrankungen wird es rechtlich anspruchsvoll. Zwar darf der Arbeitgeber nach Ablauf der Sperrfrist kündigen, allerdings kann eine Kündigung wegen Krankheit unter Umständen als missbräuchlich qualifiziert werden (dazu mehr im nächsten Abschnitt).
In der Praxis spielt die Prognose eine wichtige Rolle: Ist eine baldige Genesung absehbar? Kann der Arbeitnehmer seine Stelle wieder ausüben? Bei ungünstiger Prognose tolerieren Gerichte eine Kündigung eher als bei kurz bevorstehender Wiederherstellung.
Missbräuchliche Kündigung gemäss Art. 336 OR
Zusätzlich zum Sperrfristenschutz kennt das Schweizer Recht das Verbot der missbräuchlichen Kündigung. Art. 336 Absatz 1 lit. d OR erklärt eine Kündigung für missbräuchlich, wenn sie ausgesprochen wird, "weil der andere Teil nach Treu und Glauben Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis geltend macht".
Eine Kündigung kann insbesondere dann missbräuchlich sein, wenn:
- Sie wegen der Inanspruchnahme der Sperrfrist erfolgt
- Sie als Vergeltung für das Einfordern gesetzlicher Rechte (z.B. Arbeitszeitschutz) ausgesprochen wird
- Sie diskriminierende Gründe hat (z.B. wegen psychischer Erkrankung als solcher)
- Sie aus Rachegründen erfolgt (z.B. nach Meldung ans Arbeitsinspektorat)
Wichtig: Die Beweislast liegt bei Ihnen. Sie müssen nachweisen, dass die Kündigung missbräuchlich ist. Dies ist oft schwierig, da Arbeitgeber selten den wahren Kündigungsgrund offenlegen.
Folgen einer missbräuchlichen Kündigung
Eine missbräuchliche Kündigung ist nicht nichtig. Das Arbeitsverhältnis endet trotzdem. Sie haben aber Anspruch auf eine Entschädigung von bis zu 6 Monatslöhnen. Um diesen Anspruch zu wahren, müssen Sie gegen die Kündigung rechtzeitig (bis zum Ende der Kündigungsfrist) protestieren und innert 180 Tagen nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses Klage einreichen.
Besonderer Schutz durch GAV
Gesamtarbeitsverträge (GAV) können weitergehende Schutzbestimmungen vorsehen. Prüfen Sie Ihren GAV auf:
- Verlängerte Sperrfristen: Manche GAV sehen längere Schutzfristen vor (z.B. 360 Tage statt 180)
- Kündigungserschwernisse: Zusätzliche Voraussetzungen für Kündigungen (z.B. Anhörungsverfahren)
- Wiedereinstellungsrechte: Anspruch auf erneute Anstellung nach Genesung
- Sozialplanregelungen: Abfindungen bei betriebsbedingten Kündigungen
Was tun bei drohender Kündigung?
Wenn Sie befürchten, wegen Ihrer Erkrankung gekündigt zu werden, können Sie verschiedene Schritte unternehmen:
1. Dokumentation
Führen Sie sorgfältig Buch über:
- Alle Krankheitsphasen mit genauen Daten
- Ärztliche Atteste und Diagnosen
- Korrespondenz mit dem Arbeitgeber
- Zeugenaussagen zu relevanten Vorfällen
2. Frühzeitige Kommunikation
Informieren Sie den Arbeitgeber über Ihre Genesungsprognose. Eine klare Perspektive kann Kündigungsabsichten entschärfen. Viele Arbeitgeber sind bereit, Lösungen zu suchen (reduziertes Pensum, andere Aufgaben), wenn absehbar ist, dass Sie wieder einsatzfähig werden.
3. Wiedereingliederungsgespräch initiieren
Schlagen Sie proaktiv ein Gespräch über Wiedereingliederung vor. Zeigen Sie Bereitschaft zur Rückkehr, denn dies kann eine drohende Kündigung verhindern.
4. Rechtliche Beratung
Konsultieren Sie frühzeitig einen Anwalt oder eine Rechtsschutzversicherung. Viele Gewerkschaften bieten kostenlose Erstberatungen an. Je früher Sie rechtlichen Rat einholen, desto besser können Sie Ihre Position schützen.
5. Protest gegen die Kündigung
Wenn Sie eine Kündigung erhalten, die Sie für missbräuchlich oder während der Sperrfrist erfolgt halten, müssen Sie sofort schriftlich protestieren. Warten Sie damit nicht bis zum Ende der Kündigungsfrist.
Musterformulierung Protest
"Hiermit protestiere ich gegen die mir am [Datum] ausgesprochene Kündigung. Ich befinde mich seit [Datum] in ärztlich attestierter Arbeitsunfähigkeit. Die Kündigung erfolgte während der gesetzlichen Sperrfrist gemäss Art. 336c OR und ist daher nichtig. Ich behalte mir alle rechtlichen Schritte vor."
Kündigung während der Probezeit
Während der Probezeit gelten die Sperrfristen nicht. In dieser Phase kann grundsätzlich mit kurzer Frist (in der Regel 7 Tage) gekündigt werden, auch während Krankheit.
Einzige Ausnahme: Die Kündigung darf auch während der Probezeit nicht missbräuchlich sein. Eine Kündigung nur wegen einer Krankheit (insbesondere bei Schwangerschaft oder Unfall) kann als missbräuchlich qualifiziert werden.
Besonderheiten bei psychischen Erkrankungen
Burnout, Depression und andere stressbedingte Erkrankungen werden rechtlich gleich behandelt wie körperliche Leiden. Es gibt keinen minderwertigen Schutz für psychische Krankheiten.
Allerdings können in der Praxis Beweisprobleme auftreten: Arbeitgeber stellen manchmal die Diagnose oder die Arbeitsunfähigkeit in Frage. Hier ist ein sorgfältiges ärztliches Attest entscheidend. Lassen Sie sich von Ihrem Arzt ein detailliertes Zeugnis ausstellen, das die Arbeitsunfähigkeit zweifelsfrei belegt (ohne allerdings die Diagnose zu nennen; mehr dazu im Artikel über das Arztzeugnis).
Aufhebungsvereinbarungen: Vorsicht Falle
Häufig versuchen Arbeitgeber, während oder nach Krankheitsphasen eine Aufhebungsvereinbarung abzuschliessen. Dabei wird das Arbeitsverhältnis "einvernehmlich" aufgelöst, oft gegen eine Abfindung.
Achtung bei Aufhebungsverträgen
Unterschreiben Sie niemals vorschnell eine Aufhebungsvereinbarung. Diese kann Sie um wichtige Rechte bringen:
- Sie verlieren den Schutz der Sperrfristen
- Sie haben keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld während einer Wartefrist (sog. Einstelltage)
- Sie können keine missbräuchliche Kündigung mehr geltend machen
Lassen Sie sich vor Unterzeichnung rechtlich beraten. Prüfen Sie genau, ob die angebotene Abfindung angemessen ist.
Schutz während der Krankheit nutzen
Der Kündigungsschutz bei Krankheit in der Schweiz ist zeitlich begrenzt, aber in dieser Frist absolut. Die Sperrfristen verschaffen Ihnen Zeit zur Genesung, ohne die Angst vor einem sofortigen Stellenverlust. Nach Ablauf dieser Fristen besteht kein Sonderschutz mehr, aber die allgemeinen Regelungen gegen missbräuchliche Kündigungen greifen weiterhin.
Entscheidend ist, dass Sie Ihre Rechte kennen und sie aktiv wahrnehmen. Dokumentieren Sie sorgfältig, kommunizieren Sie proaktiv mit dem Arbeitgeber und suchen Sie im Zweifelsfall frühzeitig rechtliche Beratung. Eine Krankheit, auch eine psychische, ist kein Grund zur Scham, und Sie haben ein Recht auf Schutz während dieser vulnerablen Phase.