Schweizer Magazin für psychische Gesundheit
NOTFALL 143

Gespräch mit dem Vorgesetzten über Stress

Mit dem Chef über Überlastung zu sprechen, erfordert Mut. Doch wer schweigt, riskiert seine Gesundheit. Wie Sie das Gespräch vorbereiten, was Sie sagen sollten, und welche Alternativen es gibt.

Die Symptome sind da: chronische Müdigkeit, Schlafstörungen, innere Anspannung. Die Arbeitsmenge übersteigt die Kapazität, die Deadlines sind unrealistisch, die Erwartungen zu hoch. Viele Betroffene hoffen, dass es von selbst besser wird – oder dass die Führungskraft die Überlastung bemerkt. Beides passiert selten. Ein Gespräch ist nötig. Doch wie führt man es, ohne die eigene Position zu gefährden?

Wann ist der richtige Zeitpunkt für das Gespräch?

Es gibt zwei Hauptszenarien: das präventive Gespräch, bevor es zum Zusammenbruch kommt, und das reaktive Gespräch, wenn bereits eine Krankschreibung vorliegt oder der Burnout droht. Das präventive Gespräch ist immer vorzuziehen – aber auch schwieriger, weil die Dringlichkeit weniger offensichtlich ist.

Warnsignale ernst nehmen

Warten Sie nicht, bis Sie vollständig erschöpft sind. Anzeichen für ein notwendiges Gespräch:

  • Sie arbeiten regelmässig deutlich länger als vertraglich vereinbart
  • Sie nehmen Arbeit mit nach Hause oder denken abends nur noch an offene Aufgaben
  • Sie können wichtige Deadlines trotz Mehrarbeit nicht einhalten
  • Sie haben psychosomatische Beschwerden wie Schlafstörungen, Kopfschmerzen oder Magenbeschwerden
  • Sie fühlen sich zynisch, gereizt oder emotional erschöpft
  • Sie haben das Gefühl, dass Ihre Leistung trotz mehr Einsatz abnimmt

Wenn drei oder mehr dieser Punkte zutreffen, ist ein Gespräch überfällig.

Wichtig: Frühzeitige Kommunikation zeigt Professionalität, nicht Schwäche. Führungskräfte können nur dann Abhilfe schaffen, wenn sie informiert sind.

Vorbereitung: Was Sie vor dem Gespräch tun sollten

Ein gut vorbereitetes Gespräch ist zu 80 Prozent gewonnen. Gehen Sie strukturiert vor:

1. Termin vereinbaren

Sprechen Sie nicht zwischen Tür und Angel. Fragen Sie nach einem ruhigen, ungestörten Termin. «Ich würde gern mit Ihnen über meine aktuelle Arbeitssituation sprechen. Hätten Sie kommende Woche 30 Minuten Zeit?» Das signalisiert Ernsthaftigkeit.

2. Fakten sammeln

Dokumentieren Sie Ihre Arbeitssituation konkret:

  • Welche Projekte und Aufgaben betreuen Sie derzeit?
  • Wie viele Stunden arbeiten Sie tatsächlich pro Woche?
  • Welche Deadlines sind unrealistisch und warum?
  • Wo gibt es Engpässe oder Ressourcenmangel?
  • Welche Aufgaben müssen priorisiert werden?

Je konkreter Sie die Situation beschreiben können, desto besser. Statt «Ich habe zu viel zu tun» sagen Sie: «Ich betreue derzeit fünf Projekte parallel, von denen drei bis Ende Monat abgeschlossen sein sollten. Realistisch ist das nur, wenn ich täglich zwei Stunden mehr arbeite oder eines der Projekte verschoben wird.»

3. Lösungsvorschläge überlegen

Gehen Sie nicht nur mit Problemen ins Gespräch, sondern mit Ideen:

  • Können bestimmte Aufgaben delegiert oder verschoben werden?
  • Braucht es Unterstützung durch Teammitglieder oder externe Ressourcen?
  • Gibt es Prozesse, die optimiert werden könnten?
  • Sollten Prioritäten neu gesetzt werden?

Das zeigt, dass Sie konstruktiv denken und nicht einfach nur klagen.

4. Gesprächsziel definieren

Was wollen Sie erreichen? Beispiele:

  • Klare Priorisierung der Aufgaben
  • Verschiebung einer Deadline
  • Zusätzliche Unterstützung im Team
  • Reduktion der Arbeitslast auf ein tragbares Mass
  • Anerkennung der Problematik und gemeinsame Lösungsfindung

Formulieren Sie das Ziel für sich selbst klar. Das gibt Ihnen im Gespräch eine Richtschnur.

Gesprächsführung: Was Sie sagen sollten

Die richtige Kommunikation ist entscheidend. Vermeiden Sie Vorwürfe, Dramatik oder Selbstmitleid. Bleiben Sie sachlich, beschreibend und lösungsorientiert.

Einstieg: Das Problem benennen

Beginnen Sie mit einer klaren, ruhigen Beschreibung der Situation. Verwenden Sie Ich-Botschaften:

Gutes Eröffnungsbeispiel

«Ich möchte offen mit Ihnen über meine aktuelle Arbeitssituation sprechen. Ich merke, dass ich die Aufgabenmenge nicht mehr wie gewohnt bewältigen kann. Ich arbeite regelmässig zehn Stunden täglich, aber komme trotzdem nicht hinterher. Das belastet mich zunehmend, und ich möchte gemeinsam mit Ihnen eine Lösung finden, bevor es zu Qualitätseinbussen kommt.»

Hauptteil: Konkrete Fakten und Auswirkungen

Nennen Sie konkrete Beispiele und beschreiben Sie die Folgen:

  • «Aktuell betreue ich Projekt A, B und C parallel. Jedes davon erfordert mindestens 60 Prozent einer Vollzeitstelle.»
  • «Ich habe in den letzten vier Wochen durchschnittlich 55 Stunden gearbeitet, um die Deadlines einzuhalten.»
  • «Das führt dazu, dass ich abends nicht mehr abschalten kann und auch am Wochenende an die Arbeit denke.»

Beschreiben Sie auch die Auswirkungen auf die Arbeitsergebnisse:

  • «Ich befürchte, dass die Qualität leidet, wenn ich weiterhin alles gleichzeitig mache.»
  • «Ich kann wichtige strategische Aufgaben nicht mehr erledigen, weil ich nur noch das Tagesgeschäft abarbeite.»

Lösungsteil: Gemeinsam nach Wegen suchen

Bringen Sie Ihre vorbereiteten Ideen ein, aber überlassen Sie der Führungskraft die Entscheidung:

Lösungsvorschläge formulieren

«Ich habe mir überlegt, wie wir das lösen könnten. Eine Möglichkeit wäre, Projekt C auf nächstes Quartal zu verschieben. Eine andere wäre, Kollegin X für die Datenauswertung bei Projekt B hinzuzuziehen. Was halten Sie davon? Oder haben Sie eine andere Idee?»

Das zeigt Initiative, ohne bevormundend zu wirken.

Abschluss: Vereinbarungen festhalten

Sorgen Sie dafür, dass das Gespräch in konkreten Massnahmen mündet:

  • «Können wir festhalten, dass Projekt C auf März verschoben wird?»
  • «Wann besprechen wir, wer mich bei der Datenauswertung unterstützen kann?»
  • «Sollen wir in zwei Wochen nochmals schauen, ob die Massnahmen greifen?»

Halten Sie die Vereinbarungen schriftlich fest – entweder gleich im Gespräch oder in einer anschliessenden E-Mail: «Vielen Dank für das Gespräch heute. Ich halte kurz fest, was wir besprochen haben: [...]»

Was Sie vermeiden sollten

Einige Formulierungen wirken kontraproduktiv und sollten vermieden werden:

Übertreibungen

«Ich halte das nicht mehr aus» oder «Ich bin kurz vor dem Zusammenbruch» klingen dramatisch und können die Führungskraft überfordern oder abschrecken. Bleiben Sie bei sachlichen Beschreibungen.

Vergleiche mit Kollegen

«Die anderen müssen das auch nicht alles machen» wirkt wie Fingerzeigen. Konzentrieren Sie sich auf Ihre eigene Situation.

Vorwürfe

«Sie erwarten einfach zu viel» bringt die Führungskraft in eine Verteidigungshaltung. Besser: «Die aktuellen Erwartungen kann ich nicht erfüllen, ohne meine Gesundheit zu gefährden.»

Drohungen

«Wenn sich nichts ändert, kündige ich» ist ein Ultimatum, das die Situation eskaliert. Ausserdem: Wenn Sie noch nicht wirklich gehen wollen, wirkt es unglaubwürdig.

Achtung: Vermeiden Sie es, im Gespräch zu weinen oder emotional zusammenzubrechen. Das ist menschlich, aber im beruflichen Kontext oft kontraproduktiv. Wenn Sie merken, dass Sie emotional werden, machen Sie eine Pause: «Entschuldigen Sie kurz, ich brauche einen Moment.»

Dokumentation und Follow-up

Nach dem Gespräch sollten Sie die Vereinbarungen dokumentieren. Schicken Sie eine kurze E-Mail an Ihre Führungskraft:

E-Mail-Vorlage nach dem Gespräch

Betreff: Zusammenfassung Gespräch vom [Datum]

Sehr geehrte/r [Name],

vielen Dank für das offene Gespräch heute. Ich fasse kurz zusammen, was wir besprochen haben:

- Projekt C wird auf März verschoben
- Kollegin X unterstützt mich bei der Datenauswertung von Projekt B
- Wir besprechen in zwei Wochen, ob die Massnahmen greifen

Vielen Dank für Ihr Verständnis und die Unterstützung.

Freundliche Grüsse,
[Ihr Name]

Das schafft Verbindlichkeit und gibt Ihnen im Zweifel einen schriftlichen Nachweis.

Was tun, wenn der Boss Teil des Problems ist?

Manchmal liegt das Problem nicht in der Arbeitsmenge, sondern in der Führungsperson selbst: unrealistische Erwartungen, fehlende Wertschätzung, unfaire Behandlung, toxisches Verhalten. In solchen Fällen ist das direkte Gespräch schwieriger – und manchmal auch zwecklos.

Option 1: Das Gespräch trotzdem versuchen

Auch wenn die Führungskraft Teil des Problems ist, kann ein Gespräch helfen – sofern Sie die Hoffnung haben, dass die Person zugänglich ist. Formulieren Sie besonders vorsichtig und fokussieren Sie auf konkrete Situationen, nicht auf die Person:

Kritisches Feedback an schwierige Vorgesetzte

«Ich schätze Ihr Engagement sehr. Mir ist aufgefallen, dass in den letzten Wochen mehrfach kurzfristig zusätzliche Aufgaben dazugekommen sind. Das macht es für mich schwierig, zu planen und Qualität zu liefern. Könnten wir einen Prozess finden, der mir mehr Planungssicherheit gibt?»

Option 2: HR als Eskalationspfad

Wenn das direkte Gespräch keinen Erfolg hat oder nicht möglich ist, ist die Personalabteilung (HR) die nächste Anlaufstelle. HR hat die Aufgabe, Konflikte zu moderieren und Mitarbeitende zu schützen.

So gehen Sie vor:

  • Vereinbaren Sie einen vertraulichen Termin mit der HR-Abteilung
  • Dokumentieren Sie konkrete Vorfälle mit Datum, Situation und Auswirkung
  • Beschreiben Sie sachlich, ohne zu dramatisieren
  • Formulieren Sie klar, was Sie sich wünschen (z.B. Mediation, Versetzung, Intervention)

Wichtig: HR ist keine neutrale Instanz – sie arbeitet für den Arbeitgeber. Trotzdem hat sie die Pflicht, Fürsorgepflichten des Arbeitgebers durchzusetzen. Gehen Sie professionell und faktenbasiert vor.

Option 3: Externe Beratung nutzen

Viele grössere Schweizer Unternehmen bieten Employee Assistance Programs (EAP) an – vertrauliche Beratungsangebote für Mitarbeitende in schwierigen Situationen. Diese Programme sind unabhängig und kosten Sie nichts. Nutzen Sie sie.

Auch wenn Ihr Unternehmen kein EAP hat, gibt es externe Stellen:

  • Beratungsstellen für Arbeitnehmende: Gewerkschaften wie Unia bieten Rechtsberatung und Unterstützung
  • Psychologische Beratung: Bei Überlastung oder Mobbing kann eine professionelle Beratung helfen, die Situation zu klären
  • Rechtsanwalt für Arbeitsrecht: Wenn Sie rechtliche Schritte erwägen, lassen Sie sich beraten

Employee Assistance Programs (EAP) in der Schweiz

EAPs sind in der Schweiz vor allem bei grösseren Arbeitgebern verbreitet. Sie bieten Mitarbeitenden (und oft auch deren Angehörigen) kostenlose, vertrauliche Unterstützung bei beruflichen oder privaten Problemen.

Was EAPs bieten

  • Telefonische oder persönliche Beratung durch Psychologen, Coaches oder Sozialarbeiter
  • Unterstützung bei Stress, Burnout, Konflikten am Arbeitsplatz, persönlichen Krisen
  • Vermittlung an spezialisierte Fachstellen
  • Juristische oder finanzielle Beratung (je nach Programm)

Wie Sie ein EAP nutzen

Falls Ihr Arbeitgeber ein EAP hat, finden Sie die Kontaktdaten meist im Intranet, über HR oder in Mitarbeiterinformationen. Die Nutzung ist anonym – Ihr Arbeitgeber erfährt nicht, dass Sie das Angebot nutzen oder worum es geht.

Typischerweise erhalten Sie:

  • Eine Hotline, die Sie anrufen können
  • Einige kostenlose Beratungssitzungen (oft 3–5)
  • Bei Bedarf eine Weitervermittlung an langfristige Unterstützung

Tipp: Nutzen Sie das EAP frühzeitig. Sie müssen nicht warten, bis es zur Krise kommt. Auch präventive Gespräche sind möglich.

Wenn nichts hilft: Über einen Jobwechsel nachdenken

Manchmal führt trotz aller Bemühungen kein Weg zur Verbesserung. Wenn sich die Situation nach mehreren Gesprächen nicht ändert, die Führungskraft uneinsichtig bleibt oder die Unternehmenskultur toxisch ist, kann ein Jobwechsel die einzige gesunde Option sein.

Signale, dass es Zeit für einen Wechsel ist:

  • Sie haben mehrfach das Gespräch gesucht, ohne dass sich etwas ändert
  • Ihre Gesundheit leidet dauerhaft (Schlafstörungen, Angstzustände, Depression)
  • Die Arbeitssituation ist strukturell nicht lösbar (chronische Unterbesetzung, unrealistische Geschäftsmodelle)
  • Sie fühlen sich ethisch unwohl mit dem, was von Ihnen verlangt wird
  • Der Gedanke an die Arbeit löst physisches Unwohlsein aus

Ein Jobwechsel ist keine Niederlage. Es ist eine Entscheidung für Ihre Gesundheit.

Das Wichtigste im Überblick

  • Warten Sie nicht, bis Sie zusammenbrechen – sprechen Sie frühzeitig mit Ihrer Führungskraft
  • Bereiten Sie das Gespräch vor: Fakten sammeln, Lösungen überlegen, Ziel definieren
  • Bleiben Sie sachlich, konkret und lösungsorientiert – keine Vorwürfe oder Dramatik
  • Halten Sie Vereinbarungen schriftlich fest (E-Mail nach dem Gespräch)
  • Wenn der Boss das Problem ist: HR, EAP oder externe Beratung nutzen
  • Employee Assistance Programs bieten vertrauliche, kostenlose Unterstützung
  • Wenn sich nichts ändert: Ein Jobwechsel kann die gesündere Wahl sein